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A la CarteKolumnen

Hockneyland

Irgendwann merkte ich, dass ich drauf und dran bin, England mit London zu verwechseln, was ein verhängnisvoller Irrtum wäre. Vor ein paar Jahren überprüfte ich deshalb, ob es die Grafschaften Devon und Cornwall tatsächlich gibt – Antwort: ja, doch. Diesmal wollte ich wissen, ob die Region, der David Hockney mit seinen unnachahmlichen Landschaftsbildern ein überlebensgroßes Denkmal gesetzt hat, tatsächlich diesen sanften Zauber besitzt: Ich reiste nach Yorkshire, und ich möchte allen Reisenden, die sich das Maul über den Wiener Flughafen zerreißen, den Rat geben, erst einmal in Manchester anzukommen, damit sie wissen, wie ein wirklich beschissener Flughafen aussieht.

Aber ich will euch nicht auf die falsche Fährte bringen. Kein schlechtes Wort über den Norden Englands. Ich dilettierte in ­einem rechtsgesteuerten BMW auf der höchstgelegenen Autobahn der Insel, die mich von Manchester über Huddersfield und Leeds – Premier-League-Fans werden wohlig seufzen – nach York brachte. Der York FC kann zwar fußballmäßig nicht mithalten – er belegt in der National League, der fünfthöchsten englischen Spielklasse, einen Platz im Mittelfeld – , ist aber in einer Stadt zu Hause, deren Schönheit und Charakter so historisch wie erstaunlich sind – so wie ihre kulinarische Grundierung, aber davon gleich mehr.

York, am River Ouse gelegen, ist ungefähr so groß wie Graz, war bereits in der Römerzeit eine bedeutende Ansiedlung und diente später den Grafen von Yorkshire als Residenzstadt. Die Gassen im mittelalterlichen Zentrum sind eng, und wenn man das richtige Stadttor wählt – Stichwort: Micklegate –, befindet sich ein Wirtshaus am nächsten, und man steht vor dem alten Venedig-Problem: Mehr oder weniger alle Kneipen schauen gleich aus, aber nur in einer Handvoll kann man gut essen.

Gut, dass ich einen Konfidenten hatte, der die Lage vorsorglich sondiert hatte. Er berichtete von der kulinarischen Food Revolution in Großbritannien, die nicht nur in London stattfindet, sondern zusehends auch in den Regionen. Die Gründe sind nachvollziehbar. Zwar ist London groß genug, dass jedes noch so abseitige Konzept sein Publikum finden kann. Aber die Mieten und Kosten sind in so aberwitzige Höhen gestiegen, dass ein befreites Experimentieren nicht möglich ist, ohne dass permanent der Geldeintreiber an die Tür klopft. Daher beginnen viele talentierte Köchinnen und Köche ihr Business in kleineren Städten oder auf dem Land, wo sie bessere Rahmenbedingungen vorfinden, um konzen­triert, aber immer noch frei an den eigenen Konzepten und Umsetzungen arbeiten zu können.

Ich hatte für den ersten Abend eine Reservierung in einem Restaurant ­namens The Rattle Owl. Es befindet sich, erraten, an der Adresse Micklegate und bespielt ein sorgfältig restauriertes, denkmalgeschütztes Gebäude. Menschen, die Phobien gegen Wände haben, die nicht hundertprozentig gerade sind, sollten hier eher keinen Schritt hineinsetzen. The Rattle Owl folgt einem regionalen und saisonalen Ansatz. Es feiert, so Küchenchef Tom Heywood, „die Fülle der Lebensmittel aus Yorkshire“, und was, wenn nicht das, will ich hier erleben?

Ich nahm selbstverständlich das Acht-Gänge-Menü, bekam ein Glas Champagner und Informationen über die Lieferanten. Der Joe Fennerty Food Circle liefert das erstaunlich differenzierte Gemüse, Paul Cosgriff das Sauerteigbrot, Fowler’s den Fisch, M&J Seafood die Jakobsmuscheln, und vom Wilden Kren bis zum Schwarzdorn wird jede Menge an Blüten, Kräutern und Wurzeln in und rund um York von den Rattle Owl-Foragern eingesammelt.

Es gab Tarteletten mit Erbsen und jungem ­Stangensellerie, frittierte Brioche mit einer tiefgründigen Kräutercreme, Hühnerflügel mit Kapern, ein sehr gutes Forellentatar mit geröstetem Schwarzbrot und Blüten, sehr hübsch, aber auch sehr raffiniert, eine gegrillte Jakobsmuschel mit Beurre blanc und schließlich ein Stück Lammschulter mit winzigen Eierschwämmen und einer eingelegten grünen Spargelstange. Später kam das köstliche Crème-fraîche-Sorbet mit Sauerampfer-Granita und Bröseln und noch später ein kunst­fertiges Dessert aus Schokoladesplittern und kandierten Blättern.

Dazu wurden zwei verschiedene Weinbegleitungen empfohlen: eine der Marke „Rattle Owl“, die alle unvermeidlichen, international gut vertriebenen Naturweine enthielt, und eine zweite, „Classic“, die durchaus interessant bestückt war. Da ich von Weinbegleitungen systemisch überfordert bin, entschied ich mich für eine Flasche Riesling vom Hattenheimer Schützenhaus, die mich gut durchs Menü begleitete, ein Glas Pinot noir zum Lamm brachte der emphatische Sommelier ungefragt.

Es war ein guter, ein vielversprechender Auftakt, dem ich ein paar unangestrengte Tage in York folgen ließ. Ich besuchte in der nötigen Ausführlichkeit den York Minster, offiziell: Cathedral and Metropolitical Church of Saint Peter in York, 1472 nach einer Bauzeit von 250 Jahren fertiggestellt. Der atemberaubende Prunkbau besitzt zwei kurze Türme an der Westfassade und einen quadratischen Vierungs­turm in der Mitte, aber überwältigend ist der Minster erst innen. Hoch und elegant, ruhig und tröstlich, prachtvoll in den zahllosen Details, kühn in der Konzeption, die das Empfinden von Weite und Höhe immer wieder neu kalibriert, bis man vor dem Chorgestühl im Mittelpunkt der Kirche steht und nach Fassung ringt.

Ich umrundete das Zentrum von York täglich ein Mal auf der fast durchgängigen Stadtmauer, die ihre Aufgabe seit der Römerzeit erfüllt, dabei immer wieder überarbeitet, erhöht und neu aufgebaut wurde. Jetzt offenbaren sich die Mauern als vier bis fünfzehn Meter hohe Stadtumfriedungen, nach außen gegliedert durch mächtige Zinnen, innen mit einem Rundgang versehen, der Blicke nach innen und außen inszeniert und großartige Perspektiven auf die Außenviertel der Stadt und die Innenhöfe der Stadthäuser gewährt.

Einmal holte ich mir den überfäl­ligen Snack im Partisan, Adresse: Micklegate, einem Lokal, das im Contest um die beeindruckendste Kulisse für eine romantische Komödie mit Kaffee und Kuchen spielend den ersten Preis belegen würde (und übrigens ansprechendes Shakshuka serviert). Einmal setze ich mich auf die Bierpritschen des Brew York – Tap Room and Beer Hall und verpflegte mich mit anständigen Baos und einem Bier namens „Golden Eagle“. An einem Abend verschlug es mich nach einem mittelmäßigen Abendessen im Old Siam, einem Thai-Restaurant, Adresse: Micklegate, in ein Pub am Fluss, der den schönen Namen Yates trug. Es war Karaokeabend, und fast hätte ich auf dem Absatz umgedreht, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ein, zwei Stunden später sang ich gemeinsam mit enthusiastischen britischen Jugendlichen mit blau gefrorenen Fesseln Don’t Look Back
in Anger von Oasis:

„And so Sally can wait
She knows it’s too late
As we’re walking on by
Her soul slides away
But don’t look back in anger
I heard you say“

Kann ich seither auswendig. Und weiß seit ­diesem Abend auch, dass die Sperrstunde in jedem Pub dieser Stadt mit Wonderwall von derselben Band eingeläutet wird: „Today is gonna be the day that they’re gonna throw it back to you.“ Popkultur: eins A., Bierkultur: eins B.

Das beste Essen bekam ich bei Le Cochon Aveugle, einem winzigen Restaurant, das ausnahmsweise auf der anderen Seite der Stadt domiziliert ist. Ein kleiner Raum in einem, logo, denkmalgeschützten, mittelalterlichen Haus, in dem nicht mehr als vier Tische stehen und die Plätze an der Bar als „Kitchen Table“ verkauft werden, aufgepasst bei der Tischwahl. Das Abendessen für die maximal sechzehn Gäste beginnt pünktlich und wird an alle gleichzeitig verabreicht.

„Cochon aveugle“ bedeutet „das blinde Schwein“. Die Blindheit bezieht sich darauf, dass es keine Speisekarte gibt, sondern nur Fragen nach Allergien und Unverträglich­keiten, ansonsten bestimmt Chef Josh Overington, was auf den Tisch kommt. Josh genoss seine Ausbildung in der Kochschule Le Cordon Bleuin Paris und arbeitete im legendären Dreisterner Waterside Inn in Bray, bevor er sich selbstständig machte – „mit 800 Pfund auf der Bank“. Sein Ansatz ist dualistisch. Einerseits verkochen auch er und sein Team die besten regionalen Lebensmittel, andererseits tut er das mit den klassischen Techniken der französischen Haute Cuisine.

Als ich pünktlich im Cochon Aveugle eintraf, bekam ich einen Platz zugewiesen, über dem ein alpines Gemälde hing. Ich fragte mich schon, ob mir die Typen den Almöhi wirklich am Gesicht ablesen. Bei einem Crémant aus dem Jura dachte ich dann darüber nach, ob die Gäste am „Kitchen Table“ mit ihrer Position auf den Hochstühlen wohl hadern – was ich an ihrer Stelle sicher getan hätte – oder ihren Ausblick auf die schweigenden, konzentrierten Menschen beim Anrichten der Speisen genießen. Erst etwas später betrachtete ich ihre Position mit anwachsendem Neid, als ich nämlich nach den ersten Gängen begriffen hatte, dass ich hier in ein ganz außergewöhnliches Lokal geraten war und dass Josh Overington seine Position unter den „Great British Chefs“ nicht von ungefähr innehat.

Es ging mit einer Reihe von Snacks los. Eine tiefgrüne Brühe aus Muscheln, Frühlingskräutern und Cider in einem angewärmten Keramikbecher, hauchdünn geschnittene Scheiben von der hausgeräucherten Entenbrust auf einem – Mraz schau oba – massiven Stein, eine elegante Stabmuschel mit einer fantastischen Rhabarbervinaigrette und ein perfektes Blutwurstmacaron mit schwarzer Walnuss. Jedes einzelne Gericht war mit derartiger Präzision zubereitet, dass mich sowohl die Konsistenzen und Präsentationen als auch die marianengrabentiefen Geschmäcker ganz aus dem Häuschen brachten.

Ich war also hellwach, als ich ein Glas Chablis eingeschenkt bekam und dazu einen Lobster Custard, eine mit Bärlauch und Vin Jaune aromatisierte Eiercreme, und dann kam auch schon das Gericht, das ich seither nicht vergessen kann: eine hauchzart geräucherte Lindisfarne-Auster, gepflückt vor der Küste von Northumberland, mit einem Eis von Algen und Zitronen. Das Gericht übertraf fast alles, was ich austernmäßig bisher kennengelernt hatte. Das Jodige verband sich einzigartig mit dem Geschmack nach Meer und Frische.

Leider reagierte die Kellnerin auf meine Bitte nach Nachschlag negativ: „Es gibt für jeden Gast eine Auster. Mehr haben wir nicht.“ Sie sagte nicht einmal „leider“. Ich bemerkte allerdings während ihrer Absage, dass sie sich von meiner Anmaßung auch ein bisschen geschmeichelt fühlte, was allerdings keine messbaren Folgen hatte, abgesehen davon, dass mir Chef Josh viel später bei der Verabschiedung die Hand reichte und die rhetorische Frage stellte: „Liked the oyster?“

Nach dem obligatorischen Sauerteigbrot-mit-aufgeschlagener-Nussbutter-Gang ging es weiter in dieser Tonart. Zuerst die Jakobsmuschel, die „à la ficelle“ in Seeigelbutter gedämpft worden war und für die ich den Begriff „yummie“ erfunden habe, den ihr sicher auch bald zu hören bekommt. Es folgte ein winziger Teller mit süßen Erbsen, Sauerrahm, Brunnenkressevinaigrette und einem Löffel Kaviar, bevor ein rund geschnittenes Stück Kabeljau serviert wurde, das im Fett einer alten Kuh confiert worden war und in einem Sud aus Wintersteckzwiebeln und ­Zitronenverbene schwamm – ein weiteres überragendes Gericht.

Ich trank das Glas Pinot gris aus Oregon aus, bevor die Fleischgerichte auf dem Tisch standen. Zuerst eine Tartelette, gefüllt mit sehr grob geschnittenem, bissfestem und enorm geschmacksintensivem Tatar von der alten Kuh, ergänzt um Spurenelemente vom Räucheraal und frisch gerissenem Kren. Die Kombination funktionierte perfekt. Die beiden Scheiben vom sechs Monate gereiften Ribeye, die als Hauptgericht fungierten, waren dagegen konventionell, auch wenn sie von einer Krausen Glucke, schwarzem Knoblauch und einem Klecks einer intensiven Sauce Albuféra begleitet wurden. Es war das einzige Gericht aus dieser klassischen Dramaturgie, das ich nicht gern noch einmal gegessen hätte.

Unnötig zu sagen, dass auch die Desserts uneingeschränkt Freude machten. Erdbeeren roh und als Jam, eine Nocke Heueis mit angegärtem Erdbeersaft und Mädesüß, zuletzt eine in ein ausgehöhltes Hühnerei gefüllte Schokomousse mit scharfem Olivenöl und Himbeeren. Gerade als ich dachte, dass ich nun wirklich genug gegessen hätte, kam die Kellnerin mit einem Tablett frisch gebackener Cannelés aus der Küche. Gerade als ich meines mit geschlossenen Augen verzehrt hatte und daran dachte, wie großartig es sein kann, ohne überschießende Erwartungen in ein Restaurant zu gehen und sich daran zu erfreuen, dass die Realität keinen Mutmaßungen standhalten muss, kam die Frau mit den Cannelés zurück zu mir: „Noch eins, Monsieur?“

York war jedenfalls die Reise wert. Blödsinn, Le ­Cochon Aveugle allein wäre die Reise wert gewesen. Aber seht euch vor, wenn ihr diese Reise antretet, und besorgt euch rechtzeitig die dringend nötige Reservation. Es gibt nämlich nichts Traurigeres, als draußen auf der Straße zu stehen und fünfzehn Menschen beim Verzehr einer zart geräucherten Lindisfarne-Auster ­zuzusehen, so viel muss klar sein.

Es war jetzt endlich Zeit für Hockneyland. David Hockney, für mich der beste Maler der Welt (auch in seine auf dem iPad angefertigten Bilder bin ich nach wie vor schockverliebt), wuchs im nahen Bradford auf, bevor er zu seiner Weltkarriere aufbrach. In den Neunzigerjahren begann er regelmäßig nach Yorkshire zurückzukehren, besuchte seine Mutter, die ­inzwischen im Küstenort Bridlington lebte, und verbrachte viel Zeit draußen im Gelände, um die „Yorkshire Landscapes“ seinem Werk einzuschreiben – oder auch umgekehrt. Der Kurator Hans-Ulrich Obrist, der auch künstlerischer Leiter der Serpentine Gallery ist, sagt über die Landschaftsmalerei von Hockney: „Wenn man dort spazieren ging, sah man, so weit das Auge reichte, überall Hockney.“ Bäume, Hecken, Wiesen und der Schwung des Horizonts sind die universellen Zutaten dieser Weltkunst.

Ich lenkte den BMW Richtung Bridlington, wo ich eine Unterkunft am Meer gemietet hatte, nahm aber nicht den schnellsten Weg. Auf der Strecke besuchte ich den Helmsley Walled Garden, einen von vielen großartigen Plätzen, wo das britische Klima und exzentrische Charaktere Großes miteinander vorhaben. Ich hatte einen Nachmittag lang damit zu tun, alle Sitzbänke auszuprobieren, um herauszufinden, welche Sichtachsen, Farben- und Formenspiele zwischen Schwertlilien, Apfelbäumen, Goldregen und Stauden, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, sich die Menschen ausgedacht haben, die diesen Garten angelegt haben und pflegen. Ich blieb, bis die Sonne unterging.

Als ich nach Bridlington kam, regnete es. Ich hatte im Restaurant Salt On The Harbour einen Tisch bestellt, was aber nicht nötig gewesen wäre, weil ich der einzige Gast war. Draußen stürmte es, mein Blick reichte maximal bis auf die Karte, wo ich sah, dass es Austern aus Lindisfarne gab. Ich bestellte ein Dutzend. Sie waren auch roh köstlich, nur mit ein paar Spritzern Zitrone, obwohl sie in England gern mit einer Vinai­grette aus gehackten Schalotten und Essig gegessen werden, wenn nicht mit Tabascosauce, die ich im Kontext des zarten Austerngeschmacks gar nicht verstehe. Zum Hauptgang nahm ich einen halben Hummer und ein paar Scampi, man gönnt sich ja sonst nichts. Als ich hinüber zum Parkplatz ging, wo ich den BMW im Sturm allein gelassen hatte, war die Luft plötzlich feucht und klar, und ich konnte die Hafenpromenade mit ihren etwas traurigen Vergnügungsangeboten – „Taylor Made Fun“, „Leisureland“, „Good Time Empo­rium“ – betrachten, die allesamt geschlossen waren.

Am nächsten Tag wanderte ich von Bridlington die Küste entlang nach Flamborough Head, was Hockneyland pur war. Zusätzlich bekam ich weite Blicke über die Nordsee geschenkt, vor deren europäischem Ufer sich auf dieser Höhe ungefähr die Insel Sylt befindet. Ich stärkte mich nach der Rückkunft im herrlichen Gastgarten des Ship Inn und bereitete mich später auf den Ausflug vor, den ich für den nächsten Tag geplant hatte. Ich lud das Album Parsley, Sage, Rosemary and Thyme von Simon & Garfunkel auf mein Handy, denn ich hatte vor, nach Scarborough zu fahren.

Es ist das Grand Hotel von Scarborough, das hoch über dem Küstenort thront und ihm einen eigenwilligen Glanz verleiht. Das Haus entstand im späten 19. Jahrhundert als elegante Küstenzuflucht der viktorianischen Gesellschaft, die an die Küste kam, um ein bisschen zu frieren und am ­legendären Scarborough Cricket Festival teilzunehmen. Der Grundriss besitzt die Form eines V, als Verneigung vor Queen Victoria. Das Grand Hotel hatte 365 Zimmer. Es war zur Zeit seines Grand Opening im Jahr 1874 der größte Ziegelbau der Welt. Das Hotel kann eine unglaubliche Geschichte erzählen. Sie hat allerdings kein Happy End. Nach haarsträubenden Vorfällen ist das Haus völlig heruntergekommen und beherbergt statt blaublütigen Gästen nun afghanische Flüchtlinge. Ich ließ es mir nicht nehmen, das Monument aus der Nähe anzusehen. Seine Schönheit ist immer noch sichtbar, sie wird aber nie mehr strahlen.

Ich flanierte dann über die Seepromenade von Scarborough, an der sich flächendeckend Vergnügungsangebote angesiedelt haben. Ich versuchte, das Klingeln und Dröhnen der Spielautomaten und den Duft nach Zuckerwatte und Fritten mit dem wehmütigen Sound des alten Volkslieds Scarborough Fair in Übereinstimmung zu bringen, aber es funktionierte nicht. Der Vergnügungsmeile von Scarborough verdankte ich allerdings den heftigen Wunsch, Fish & Chips zu essen, und zwar an einem Ort, wo es nicht nach solchen Fish & Chips roch wie hier.

Diesen Ort fand ich in Whitby, zwanzig Meilen nördlich von Scarborough. Das Städtchen liegt auf beiden Seiten des River Esk, der sich an der Mündung spektakulär verbreitert und von einem langen Pier eingefasst wird. Von der Klippe, auf der St. Mary’s Church thront, sehen die Häuser am Ufer des Esk klein und spielzeughaft aus, aber im Originalmaßstab rittern hier mehrere Anbieter um den Titel des besten englischen Fish-&-Chips-Lokals.

Das Quayside zum Beispiel, 2014 zum National Winner des landesweiten Fish-&-Chips-Wettbewerbs gekürt, kann auch auf eine Tangente nach Österreich verweisen. Hier musste der Koch Konstantin Filippou für das TV-Format Kitchen Impossible Fish & Chips kochen und scheiterte, weil er das Nationalgericht artfremd verfeinerte. Ich aber suche The Magpie Café auf, den Nachbarn des Quayside und seinerseits vielfach für seine Fischküche ausgezeichnet.

Obwohl ich meinen Tisch für 16.30 Uhr bestellt habe, also in der mutmaßlich toten Zeit zwischen Mittag- und Abendessen, ist die Bude rammelvoll. Ich muss in den zweiten Stock hinauf, durch mehrere Stuben hindurch, bevor ich im dritten Speisesaal links meinen Platz bekomme – und zehn Minuten später wirklich grandiose Fish & Chips. Der Kabeljau ist saftig und zart. Die Panier erinnert eher an Tempura als an Bierteig, und die Chips sind voluminös und knusprig.

Ich bin im Himmel. Ich mache ein Foto und schicke es an Konstantin Filippou. Dann esse ich so langsam wie möglich und warte darauf, dass aus irgendeinem Lautsprecher endlich ein Song von Oasis erklingt. —

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