Christian Seiler Logo
Christian Seiler Logo
Theme
Theme
Menü öffnen
Menü öffnen
Christian Seiler Logo
Christian Seiler Logo
A la CarteKolumnen

Im spirituellen Zentrum Italiens

© Illustration von Markus Roost

Erkundungen auf der Halbinsel von Portofino. Samt italienischem Grand Hotel, Focaccia al formaggio und dem schönsten Wirtshaus der Welt.

Der Ort, den mir Contessa Monica so ans Herz gelegt hatte, hieß „La Melasecca“. Der Taxifahrer, der mich von Camogli zuerst durch Ruta und dann durch San Lorenzo della Costa chauffierte, erklärte mir gerade, warum auf seiner Visitenkarte in 36-Punkt-Schrift „Mercedes S-Klasse“ stand, mit Rufzeichen, obwohl wir eindeutig in keiner Mercedes S-Klasse saßen, sondern in einem etwas älteren Renault, der schnaufte und krängte und sich mit der Steigung der Straße abmühte.

Ich hörte nicht zu. Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete den Golfo Paradiso, der tief unter uns lag und den die tief stehende Sonne gerade in eine Traumlandschaft aus Swarovskikristallen verwandelte. Ich betrachtete die großen und kleinen Villen, die inmitten von Bougainvilleen auf ihrem Aussichtsposten hockten und ich beneidete die Menschen, die auf den Terrassen dieser Häuser saßen und bunte Getränke zu sich nahmen.

Der Abschied vom Cenobio dei Dogi war mir schwer gefallen. Erstens hatte ich von meinem Zimmer denselben unwiderstehlichen Blick aufs Meer, nur dass dieser von den turmhohen Fassaden Camoglis zusätzlich veredelt wurde – nicht umsonst hat Camogli den Kosenamen „das Manhattan Liguriens“. Zweitens trugen die wunderbaren Kellner in ihren weißen Smokingjacken gerade ganze Batterien von Campari Soda auf, und ich müsste lügen, wenn mir die Mischung aus Abendsonne, Campari-Rot und dem Duft nach Pizza-Snacks nicht Appetit gemacht hätte. 

Aber genau in diesem Augenblick läutete mein Zimmertelefon und die Rezeption ließ mich wissen, dass mein Taxi vorgefahren sei. Contessa Monica hatte den Tisch für sieben reserviert und schrieb mir gerade auf WhatsApp, dass ich ja pünktlich sein möge.

Gleich hinter der „Trattoria degli Amici“ bogen wir nach links ab, die Straße wurde schmaler und plötzlich befanden wir uns inmitten von Gärten und Parkanlagen, durch die man auf beide Seiten der Anhöhe, auf deren Kamm wir dahinschlichen, hinunterschauen konnte. Auf der einen Seite war das die Tallandschaft zwischen Rapallo und Faveto, sehr grün und dämmrig. Auf der anderen Seite war es das offene Meer vor Santa Margarita Ligure, und dort trieben sich um diese Zeit noch ein paar Jachten und Passagierschiffe herum, deren Gäste gern in Portofino zu Abend essen wollten. Auch ein Kreuzfahrtschiff hatte Anker geworfen und lag fett und illuminiert ein paar hundert Meter von der Küste entfernt.

Das Taxi blieb stehen. Ob es mir etwas ausmache, fragte der Fahrer, die letzten hundert Meter zu Fuß zu gehen?

Ich stieg aus und verstand seinen Wunsch. Auf beiden Seiten der inzwischen sehr engen Straße ragten halbhohe Natursteinmauern empor, hinter denen Gemüsegärten, Oliven- und Apfelbäume gediehen. Ein kleiner Fahrfehler, und der Lack des Renaults würde Bekanntschaft mit ihnen schließen.

Der Fahrer ließ mich nicht zahlen. „Erst auf dem Rückweg…“, sagte er großzügig und hatte sich mit diesem Trick schon das nächste gute Geschäft reserviert. Und wenn nicht, er wusste ja, wo ich wohne.

Ich ging jetzt allein durch die Dämmerung weiter. Links von mir sah ich die dunklen Umrisse eines ehemaligen Klosters, und etwas weiter vorne hörte ich das unvergleichliche Geschnatter einer italienischen Familie, die beim Abendessen saß. Als ich durch ein hohes Tor Richtung „Melasecca“ einbog und den hohen, nach allen Seiten offenen Pavillon sah, unter dem die Tische mit ihren grün-weiß-karierten Tischtüchern standen, war ich schon im Glück. Als ich den besten dieser Tische in einer von Zierbüschen umgebenen Nische zugewiesen bekam, lobte ich die Zauberkraft von Contessa Monica. Und als mir schließlich die Speisekarte ausgehändigt wurde – was heißt Karte? ein kopierter Zettel, auf dem die Gerichte des Tages standen –, war ich zum ersten Mal an diesem Abend, wie man so sagt, im Paradies.

Zur Vorspeise nahm ich eine Kombination von Feigen und Salami: die Feigen geschält, die Salamiradeln einen halben Zentimeter dick geschnitten, beides gemeinsam serviert auf einem dickwandigen, weißen Teller und einem Feigenblatt. Die Feigen waren cremig und süß, der Salami verwandt in ihrem geschmeidigen Schmelz. Einfacher kann ein Gericht nicht sein, und als ich mir ein Stück Salami nach dem anderen in den Mund schob und jeden Bissen mit einem Stück Feige veredelte, konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass es vielleicht ein besseres geben könnte.

Himmlisch Nandos Wunderwirtshaus La Mela Secca, überdacht, aber Freiluft. Polpette und Lasagne sind einfach. Aber einfach grandios.

Gleich nach der Salami kamen die Steinpilze, frisch paniert und mit zwei kleinen Kartoffeln garniert, und nach den Steinpilzen kamen die Polpette in einer denkwürdigen, leichten Tomatensauce, und als ich nachher noch nach der Steinpilzlasagne verlangte, kam Nando, der Chef persönlich, um sich den Typen anzusehen, der sich gerade ein Abendessen nach seinem – Nandos – Geschmack einverleibt hatte. Wie soll ich sagen: Man sieht Nando die Freude an seinem Beruf durchaus an.

„Monica hat gesagt, dass du gern isst“, sagte Nando. „Aber sie hat nicht gesagt, WIE gern du isst.“ Seiner Feststellung schickte er ein kehliges Lachen nach, das in einen sanften Falsettton überging: „Grappa?“

Satt sah ich, wie die Nacht über die Halbinsel von Portofino fiel. Satt reservierte ich einen Tisch für Freitag. Satt ging ich dem Taxi entgegen, und erst als mich der Renault die Serpentinen hinunter zu meinem Hotel schaukelte, festigte sich der Eindruck, dass ich möglicherweise mehr gegessen hatte, als um nur satt zu werden.

Das „Cenobio dei Dogi“ ist ein altes Grand Hotel, das etwas abgesetzt von der Promenade der Altstadt auf einem Hügel sitzt. Es besteht aus zwei historischen Häusern und einer ausgedehnten Strandinfrastruktur, hübschen Umkleidekabinen, Duschen, einem Restaurant über dem Strand, der von schwarzen Steinen geprägt wird, den notwendigen Stegen ins Meer hinaus und natürlich einer ganzen Herde von Liegen und Sonnenschirmen, auf denen sich ein früher Sommertag perfekt verbummeln lässt.

Im übrigen prägt ein Hauch von italienischer Nostalgie das Hotel. Mir fiel, als ich zum erstenmal ein Zimmer mit Blick auf den Golfo Paradiso bezog, der alte Herr Agnelli mit seinen gestreiften Hemden und offenen Manschetten ein, auch wenn der wahrscheinlich nie hier zu Gast war – aber die Badezimmer wurden sicher zu seiner Zeit installiert. 

Das Hotel ist fest in italienischer Hand. Paare und Familien bevölkern plaudernd, rauchend und Campari trinkend die Terrassen und sorgen für eine Grundstimmung, in die man sich gerne einwickeln möchte, damit sie auch im nächsten Winter noch wärmt.

Camogli selbst ist ein kleiner, aber spektakulärer 5000-Seelen-Ort, eine halbe Stunde südöstlich von Genua an der Riviera Levante gelegen. Im Spätmittelalter war Camogli noch eine bedeutende Hafenstadt gewesen und verfügte über eine mächtige Flotte von Segelschiffen. Der Begriff „Città dei Mille Bianchi Velieri“ – „Stadt der tausend weißen Segler“ – stammt aus dem 18. Jahrhundert, als Camogli einen guten Teil der Napoleonischen Flotte stellte. Die nautische Tradition setzte sich noch lange Zeit fort. Das Marinekolleg Cristoforo Colombo und ein Altersheim für Kapitäne sind stille Zeugen davon. Auch die fröhlichen Farben, mit denen die Fassaden der Häuser getüncht wurden, stehen in direkter Verbindung zum Meer. Sie waren den Fischern Camoglis ein leuchtender Anhaltspunkt, wenn sie nach dem Fang wieder den Heimathafen ansteuerten. 

Im Schatten von Portofino steht Camogli. Dafür wird das Manhattan der Riviera mit Sonnenuntergängen über dem Golfo Paradiso beschenkt.

Ich hingegen steuerte auf der Promenade meinen zwischenzeitlichen Lieblingsladen an, ein ziemlich unübliches Eisgeschäft namens „Nutritevi dei colori della vita“ – „Esst die Farben der Natur“ –, wo es Obst und Granita in den gleichen fröhlichen Farben gab. Das Zitroneneis war Weltklasse, aber auch die Schälchen mit den Melonen, Beeren oder Mangos waren von erster Qualität, so dass ich es mir bald zur Gewohnheit machte, auf einem der winzigen Hocker vor dem Geschäft Platz zu nehmen, Obst im einen oder anderen Aggregatzustand zu essen und mir dabei das Geschehen auf Promenade und dem ein Stockwerk tiefer liegenden Strand anzusehen. 

Dann ging ich – interessant, wie schnell man sich solche Gewohnheiten zulegt – hinüber zur Revello Focacceria, wo ich mir als Zwischenverpflegung eine „Focaccia al formaggio“ besorgte, ein hauchdünnes Stück Teig mit einem spezifischen Frischkäse, dem am ehesten der auch bei uns bekannte Stracchino ähnelt. Da man im Verkaufslokal dieser Bäckerei durch ein Fenster in die Backstube sieht, entwickelte ich bald eine ausgeklügelte Strategie: Ich drückte mich solange vor den Vitrinen mit Süßigkeiten und kleinem Gebäck herum, bis die nächste Focaccia al formaggio frisch aus dem Ofen geholt wurde und sofort in den Verkaufsraum kam. Das war der Moment, wo ich in der ersten Reihe stand und die Hand hob.

Ich komplettierte meine Runde, indem ich hinüber zum Hafen ging, mir beim Zeitungsstand die Gazzetta dello Sport holte, mich in einem der Cafés, wo gerade Platz war, niederließ und den einen oder anderen Espresso nahm. Ich besuchte die Basilica di Santa Maria Assunta, die spektakulär und kühn dem anrollenden Meer im Weg steht, genoss die Kühle im leeren Kirchenschiff, und kehrte langsam wieder zurück ins Hotel, wo ein paar Freuden und Pflichten auf mich warteten: die Freuden sind mit Salz, Sonne und Meer ganz gut umschrieben, während die Pflichten darin bestanden, die Abendgestaltung mit aller notwendigen Konsequenz sicherzustellen – ich konnte, auch wenn das dem Taxichauffeur sicher gut gefallen hätte, ja nicht täglich in die „Melasecca“ essen gehen (wobei ich zugeben muss, dass ich mit dem Gedanken durchaus sympathisierte).

Meine Recherchen führten mich dorthin, wo ich in der Früh immer die Zeitungen kaufte: zum Hafeneingang von Camogli. Dort um die Ecke, in einem kleinen Hinterhof, befindet sich das „Ristorante da Paolo“. Angelo, Sohn besagten Paolos – der wiederum der Dorftradition entsprechend zur See gefahren war und sich als Bordkoch verdingt hatte –, servierte dort eine ganze Reihe wirklich guter Fischgerichte. Ich probierte die Acciughe al limone, Sardellen mit Zitrone, setzte das Essen mit den Taglierini neri con Seppie e Scampi fort – bei schwarzen Nudeln kann ich nie widerstehen. Später erfuhr ich, dass die Taglierini neri aus der Pastawerkstatt der Pasticceria Revello stammen, wo man sie auch frisch für den Hausgebrauch einkaufen kann. Das war der einzige Moment, als ich mich eine Sekunde nach meiner eigenen Küche sehnte. 

An einem anderen Abend reiste ich mit dem Lokalzug eine Station nach Recco und suchte die Antica Osteria del Vastato auf, die auch unter dem Namen „Da Ö Vittorio“ firmiert, was aber meines Wissens nichts mit der von der FPÖ abgespaltenen Splittergruppe „DAÖ“ zu tun hat. Man muss ein bisschen aufpassen, dass man die Osteria nicht mit dem Ristorante verwechselt, denn nur in der Osteria offenbart sich die ligurische Gastlichkeit auf diese lässige, beiläufige Weise.

Als ich ankam, war die Hütte voll, nur der Katzentisch war für mich reserviert. Normalerweise trübt das meine Laune, aber nicht hier: Es duftete so köstlich nach Essen, und auf dem ersten Teller, der mir ins Auge sprang, lagen hauchdünn aufgeschnittene Kaiserlinge, nur ergänzt um etwas Olivenöl und ein paar Späne Parmesan.

Es gab sowieso nur ein paar Tagesgerichte, die der Koch mit Kreide auf eine Tafel geschrieben hatte, und ich hatte meine helle Freude an einer Caprese mit Sardellen und einer dicken Basilikumcreme, an den Kaiserlingen, die hielten, was sie versprochen hatten und einer Pasta mit dicker Genoveser Nusssauce. 

Als ich auf der Via Fiume zurück zur Bahnstation von Recco ging, dem mehr oder weniger ausgetrockneten Flußbett entlang, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Ich schaute mich um und sah das Renault Taxi, das im Schritttempo ein paar Meter hinter mir entlang schlich und dessen Chauffeur jetzt, als sich unsere Blicke trafen, höchst erstaunt, nein, hocherfreut, tat. Was für ein Zufall! Ob ich nicht einsteigen und mit ihm nach Camogli fahren wolle, das sei ja eine Überraschung, sowas sei ihm noch nie passiert…

Ich seufzte und stieg ein.

Als die Sonne am nächsten Tag nicht so recht wusste, wohin, nahm ich mir die Wanderung nach San Fruttuoso vor. Nicht ohne Hintergedanken: Wenn ich zeitig genug ankäme, würde ich vielleicht in der „Cantina“, einem kleinen Wirtshaus am äußersten Ende der Bucht, einen kleinen Imbiss nehmen können.

San Fruttuoso ist ein Klosterkomplex an der Südküste der Halbinsel von Portofino. Hierher fährt kein Auto. Man erreicht San Fruttuoso nur zu Fuß oder mit dem Schiff. Die Gründung des Klosters geht auf das 10. Jahrhundert zurück. Nach mehr als tausend Jahren Frömmigkeit ist die Profanisierung des Ortes allerdings galoppierend vorangeschritten. Die Benediktinerabtei und der Torre Doria, der eindrucksvolle Wehrturm an der Seite des Klosters, sind heute eine willkommene Kulisse für Ausflügler, die hier schwimmen und planschen gehen, in der Sonne baden und sich von Eis und Fanta ernähren.

Ich nahm die Besteigung des Monto Portofino, dessen 610 Meter Scheitelhöhe Camogli von San Fruttuoso trennen, schon früh am Morgen in Angriff. Zuerst über steile Stiegen durch Gärten und Olivenhaine bergauf bis San Rocco, wo ich mich in der fabelhaften Pasticceria mit Wasser und frisch gebackener Focaccia versorgte. Dann nahm ich den Küstenweg, obwohl mich die Rezeptionistin davor gewarnt hatte – „steil, Signore, sehr, sehr steil“, wobei sie mit zierlichen Handbewegungen Abgründe symbolisierte – und genoss die Blicke auf den jetzt taubenblauen Golfo Paradiso. 

Die Halbinsel von Portofino war im Zweiten Weltkrieg Standort deutscher Truppen, die sich in gewaltigen Bunkeranlagen verschanzten, um den Golf von Genua nach alliierten Truppen abzusuchen. Mit großem Interesse nahm ich nach einer weitere Stunde Fußbarsch diese Ruinen in Augenschein, so wie auch die Schilder, die sich hier mehrten: „Achtung, steil. Achtung, ausgesetzt. Bitte nur erfahrene Berggänger.“ 

Hielt mich nicht davon ab, auf dem schmalen Pfad durch das krautige, von knotigen Bäumen und Sträuchen gesäumte Unterholz weiterzugehen, bis ich zu einer felsigen Stelle kam, die von einer Kette gesichert war. Ich lächelte überlegen: Wer braucht denn hier eine Sicherung? Das versteht Ihr also unter „Achtung, ausgesetzt“? Ich lachte in mich hinein, und gerade als ich ernsthaft der Meinung war, dass ich praktisch schon am Ziel sei und bereits den Tonfall einstudierte, mit dem ich in der Cantina „Frutti di mare“ und einen Schluck leichten Weißwein bestellen würde, fiel der Fels vor mir abrupt und steil ins Meer ab. Gleichzeitig verengte sich der Pfad zusehends, so dass ich erst einmal stehenblieb, zweitens nachzudenken begann und drittens in aller Selbstverständlichkeit des alpinen Hosenscheißers umdrehte und zurück nach Hause ging.

Nach San Fruttuoso kam ich trotzdem, wenn auch erst am nächsten Tag. Wieder über die Stiegen nach San Rocco, dann diagonal durch den Nationalpark von Portofino, vorbei an Gärten, Hütten und Freiluftkapellen, Blicke hinüber nach Santa Margarita, zu den Dörfern, die triumphal auf den Rücken der kühnen Hügel sitzen, auch an der einen oder anderen Wandergruppe vorbei und schließlich, auf dem unvermeidlichen Abstieg nach San Fruttuoso, wieder allein.

Entsprechend triumphal war meine Ankunft. Auf dem Meer schaukelten Boote, nur eine Handvoll Familien und Touristen teilten sich den Strand. In der Cantina gaben sie mir den schönsten Tisch rechts oben unter der Voraussetzung, dass ich um halb zwei meine Mahlzeit beendet hätte, weil dann käme die Jacht aus Portofino mit ein paar Spezialgästen.

Ich aß die frischen Scampi, dann Spaghetti Pescatore, trank ligurischen Vermentino und bildete mir ein, tief unter dem Hafenbecken die Jesusstatue zu sehen, jenen „Cristo degli abissi“, Christus der Ertrunkenen, der seit 1954 auf dem Meeresboden steht, um den unerlösten Toten, die im Meer ums Leben gekommen waren, Trost und Erlösung zu spenden. 

Zurück nach Camogli nahm ich trotzdem das Boot.

Okay, in Portofino war ich natürlich auch. Ich nahm in Santa Margarita Ligure das Ausflugsschiff, ließ mich gemeinsam mit aufgeregten Kindern und kurzhosigen Engländern der östlichen Küste der grandiosen Halbinsel mit ihren Fantasievillen entlang in das kleine Fischerdorf schippern, wo schon Friedrich Nietzsche regelmäßig seine Sommer verbrachte. 

Portofino ist längst kein kleines Fischerdorf mehr, sondern eine italienische Metapher für Glanz und Reichtum. Auf den Hügeln stehen tief beschattet und fast unsichtbar die Milliardärsvillen, im berühmten Hotel Splendido logieren Gäste, denen die Suite tausend Euro am Tag wert ist, und die Strandpromenade haben die üblich verdächtigen Lifestyle-Brands untereinander aufgeteilt.

Als ich ankam, landeten auch gerade ein paar Reisegruppen, deren Kreuzfahrtschiff vor Santa Margarita lag. Sie mussten Anstecknadeln tragen, auf denen ihre Gruppe und deren Farbe vermerkt war, damit sie beim Hafenrundgang auch den richtigen Regenschirmen nachlaufen konnten.

Obwohl das keine besonderen Vorzeichen waren, fühlte ich mich in Portofino wohl. Wie eigentlich überall – aber hier ganz besonders – reichten ein paar Schritte, um den Massen zu entkommen und, nur ein paar Stiegen bergauf, Winkel zu finden, die schön – und mehr oder weniger leer waren. Ich besichtigte das Castello Brown und den nahen Kunstgarten, blickte von einem Mäuerchen lange auf die Riviera Ligure hinaus und verstand, dass Nietzsche hier von der Muse geküsst worden war.

Wer den Hafen von Portofino so menschenleer sehen will, muß auf besondere Gelegenheiten warten. Tipp der Redaktion: sehr früh aufstehen. Ansonsten führen alle Fluchtwege die Stiegen hinauf – und sofort wird es still. Foto: Getty Images

Hier saß ich, wartend, wartend –
doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse,
bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens,
ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag,
ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin!
Wurde Eins zu Zwei –
Und Zarathustra ging an mir vorbei …

Jetzt wartete ich, bis das Kreuzfahrtschiff seine Freigänger wieder eingesammelt hatte, dann nahm ich im Caffè Excelsior einen Espresso und genoss die Schönheit, die sich über dieser kleinen Bucht verdichtet wie an kaum einem anderen Platz der Welt. 

Aber als ich das Boot via San Fruttuoso nach Camogli nahm, freute ich mich schon wieder auf mein ruhiges Zimmer im „Cenobio dei Dogi“ – und dass kein Kreuzfahrtschiff mehr in meinem Sichtfeld sein würde.

Dann war Freitag, jener Freitag, an dem ich zu Nando nach „La Melasecca“ zurückkehrte. Ich hatte Camogli und Umgebung inzwischen gut vermessen. Gut gegessen. Spezialwissen über die „Focaccia al formaggio“ angehäuft. Die Sonne auf alle möglichen Arten untergehen sehen (vor allem aber durch famose, mit Campari-Soda gefüllte Tumbler). Die Treppen von Camogli bestiegen: der Ort liegt auf einem so steil ansteigenden Hang, dass man oft 50 Stiegen ensuite hinaufsteigen muss, um auf das nächste Straßenniveau zu kommen. 

Und ich hatte den Taxifahrer abgeschüttelt. An diesem Freitag nahm ich nämlich den Autobus, um an mein Ziel zu kommen. Kostete ein Zehntel und wackelte nicht so.

Ich genoss den einen Kilometer langen Anmarsch von der Busstation zum Lokal. Ich genoss die freundliche Begrüßung und wie zielstrebig ich an den Tisch mit dem grün-weiß-karierten Tischtuch geführt wurde. Ich genoss den Blick auf die Gärten von Santa Margarita und ich genoss das Glänzen der Boote, die tief drunten auf dem Meer schaukelten.

Dann genoss ich Salami und geschälte Feigen, eine unübertreffliche Caprese, mollige Crespelle und vor allem den kristallklaren Begasti aus Cinque Terre. 

„Komm bald wieder“, sagte Nando beim Abschied.
„Ich schwöre!“, sagte ich.
„Grappa?“, sagte Nando.
„Nein, nicht noch einen“, sagte ich.
„So eine Überraschung!“, sagte der Taxifahrer, der plötzlich aus der Dunkelheit hervortrat. „Und so eine Freude…“

vorherige Kolumne lesen
nächste Kolumne lesen