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KulinarikReise

Wenn das Essen auf dem Teller noch lebt

In Mošćenička Draga, einem Fischerdorf an der Kvarner Bucht, eröffnete ein ehemaliger Seemann namens Ed Salomon in den sechziger Jahren ein Fischlokal. Er nannte es „Johnson“, weil er den 36. Präsidenten der USA, Lyndon B. Johnson, so bewunderte. Das „Johnson“ ist in einem etwas grobschlächtigen Einfamilienhaus im Grünen untergebracht, zehn Minuten zu Fuß von der Marina entfernt, wo es Rummel gibt und als Formel 1-Autos maskierte Tretboote vermietet werden. Hinter dem „Johnson“ steigen steil die Hügel der Učka auf, und von den Hügeln der Učka fällt auch der tröstliche, kühle Wind herunter, der die heißen Sommerabende auf der Terrasse des „Johnson“ so erträglich macht, als Sekundant des kühlen Malvazija, klarerweise.

Das „Johnson“ hat eine Spezialität: frischen Fisch.

Klingt banal, zumal kein Mensch im Restaurantbusiness je zugegeben hätte, dass der Fisch auf der Karte irgendwas zwischen nicht soo frisch und gerade noch nicht verdorben ist, aber ihm „Johnson“ verstehen sie beim Thema Frische keinen Spaß.

Es gibt „Fisch des Tages“, das ist, was der Fischer mit seinem Mitsubishi Colt vorbeigebracht hat. Heute. Gerade eben. Dieser Fisch wird kurz auf den Grill gelegt oder roh, als Ceviche serviert, mit Zitronensaft mariniert und mit Meersalz gewürzt. Basta. Oder, stimmt, mit Pasta.

Es gibt auch Scampi....vielleicht gibt es Scampi. Denn es wird zusehends schwieriger, die prächtigen, blassen Exemplare aufzutreiben, die hier an der Kvarner Bucht als exzellent, als Delikatesse gelten, als vitale Antithese zu den Zuchtgarnelen aus aller Welt, deren mehlige Konsistenz und neutraler Geschmack sich mit Analogkäse und Pferdefleischlasagne um den Titel des eindrucksvollsten kulinarischen Irrtums raufen.

Hier gibt es Scampi, wenn der Fischer welche gefangen hat. Er fängt sie mit Fallen vor der Kulisse einer verspielten Felsenlandschaft, die steil und bewaldet aus dem Meer aufsteigt, holt sie an die Wasseroberfläche und bugsiert sie in eine unscheinbare Wanne aus Plastik. Die Wanne ist klein und rund, vielleicht vierzig Zentimeter im Durchmesser und fünfzehn Zentimeter hoch. Wenn sie zur Hälfte gefüllt ist, ist der Fang gut. Sind weniger Scampi in der Wanne, dürfen nur ein paar Stammgäste damit rechnen, dass Dragan oder Dean, die beiden Jungs, die seit 1996 das „Johnson“ führen, auf die Frage nach Scampi zustimmend nicken. Alle anderen Gäste müssen sich mit einem bedauernden „Vielleicht morgen“ bescheiden.

Was hier etwas pauschal „Scampi“ heißt, gehört zur Ordnung der „Zehnfußkrebse“, zur Familie der „Hummerartigen“ und zur Art des „Kaisergranats“.

Die Viecher sind bis zu 20 Zentimeter groß und leben zwischen 20 und 40 Meter Tiefe in selbstgegrabenen Höhlen, die sie nur einmal pro Tag verlassen, um Nahrung zu holen – oder in die Falle ihrer Jäger zu tappen. Ihr Körper ist langgestreckt und in Cephalothorax, Kopfregion, und Abdomen, Delikatesse, unterteilt. Die Kopfregion ist von einer schützenden Schale namens Carapax bedeckt, unter der die Beine des Tiers und zwei ungleiche Scheren herausragen. Die größere der Scheren heißt „Knackschere“, sie ist mit großen, runden Zähnen bewehrt, aber auch die kleinere Zange kann beim Fischer, dessen Finger ihre Bekanntschaft macht, zu abrupt hochgezogenen Augenbrauen und wütenden, verbalen Reaktionen führen.

Im „Johnson“ werden Scampi natürlich auch für die Laufkundschaft zubereitet, für die Reisenden, die von den K.u.K.-Villen in Opatja und den dunklen Silhouetten der malerisch im Mittelmeer liegenden Inseln Cres und Krk angezogen werden. Dafür kommen die Tiere aus der Plastikwanne direkt auf den Grill, wo sie sterben und in dreißig, vielleicht vierzig Sekunden über dem Holzkohlenfeuer ein leichtes Raucharoma annehmen, ansonsten aber auf beeindruckende Weise sie selbst bleiben: frisch, saftig und von dem spezifischen, süßlich-maritimen Geschmack, der Milliarden von Krustentieren jedes Jahr das Leben kostet.

Wir empfinden diesen Geschmack als „elegant“ und irgendwie „luxuriös“, kombinieren ihn vorzugsweise mit Mayonnaise oder prickelnden Getränken, und wir haben uns landläufig daran gewöhnt, dass wir in der Fischhandlung oder im Supermarkt bloß das schmackhafte Teil des Tiers, sein Abdomen, den von Kopf, Füßen, Schalen, Scheren und Navigationsinstrumenten befreiten Rest des Tiers bekommen, oft genug bleich und tiefgefroren in Schachteln oder Säcke sortiert.

Haha, sagen die Typen vom „Johnson“ zu solchen Abziehbildern des wahren und echten Geschmacks und schütteln den Kopf. Nicht hier. Ha. Nicht wir.

Außerdem geben sie dir, wenn du in der richtigen Begleitung das Restaurant betreten hast, den Hinweis, dass du die Scampi auch so essen könntest, wie Scampi ihrer Meinung nach gegessen gehören: Roh.

Es ist keine neue Erfindung der „Johnson“-Brothers, Fisch roh zu essen. Die Sushi-Kultur ist inzwischen ja schon in die Take-Away-Vitrinen mittelmäßiger Supermärkte  vorgedrungen. Aber es ist definitiv ein spezielles Angebot, rohe Scampi so, mhm, frisch zu verzehren.

„Such dir einen aus“, sagt Dragan, der mit der Wanne an unseren Tisch gekommen ist.

Ich schaue in die Wanne. Ich blicke in die schwarzen, nierenförmigen Augen von einem Dutzend Scampi, die alle ein bisschen unruhig sind und zappeln. Ich kann es ihnen nicht verdenken.

„Nun?“, fragt Dragan.

Ich zeige auf einen prachtvollen Kerl mit enorm ausgeprägter Knackschere.

„Okay“, sagt Dragan, „nimm ihn dir.“

Wie, nimm ihn dir?

Bei Dragan, der im Gegensatz zu mir schnell schaltet, fällt der Groschen.

„Du hast Scampi noch nie so gegessen?“

Ich weiß noch immer nicht genau, was er mit „so“ meint und schaue ihn zur Sicherheit zutraulich und etwas blöde an.

„Du isst deinen Scampi roh. Das heißt, du nimmst ihn aus der Wanne und reißt ihm den Kopf ab. Dann isst du ihn.“

Jetzt zögert Dragan ein bisschen, als er das Knackwerkzeug meines Favoriten betrachtet.

„Wenn du’s zum ersten Mal machst, such dir lieber einen kleinen aus.“

Und wie zur Demonstration greifen die beiden ortskundigen Begleiter, die mich ins „Johnson“ eskortiert haben, mit ihrer linken Hand in Dragans Wanne, packen je einen Kaisergranat am Nacken, wenn man das so sagen kann, ignorieren das Zappeln der Beinchen und das Suchen der Scheren nach einem Widerstand, dem man noch einmal weh tun könnte, dann kommt schon die rechte Hand und trennt den Cephalothorax vom Abdomen, und nach dieser finalen Entscheidung haben auch die Scheren nichts mehr zu packen, sie erschlaffen und werden auf den großen Teller gelegt, den Dragan vorausblickend auf unseren Tisch gestellt hat, für die Reste.

Dazu kommen die Chitinpanzer, die nun links und rechts von mir abgeschält werden, damit das helle, rötlich-weiße Fleisch der eben geschlachteten Viecher endlich zum Verzehr bereit ist.

„Zitrone?“ fragt Dragan.

„Ach was“, sagen die Kenner.

„Jetzt du“, sagt Dragan.

Ich suche mir ein Opfer mit winzigen Scheren aus, hebe das Tier aus der Plastikwanne, achte nicht auf das Zappeln der Beine, obwohl man das, ohne den Krebs zu vermenschlichen, ohne weiteres als eine Manifestation passiven Widerstands interpretieren könnte, dann mache ich es wie die anderen, nehme den Kopf zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger und trenne ihn vom Körper.

Es geht leichter, als ich gedacht hatte. Ein paar Tropfen einer Flüssigkeit, die ich nicht interpretieren kann, spritzen auf den Teller. Ein paar Handgriffe noch, dann stecke ich mir das geschälte Stück Scampi, das vor zwanzig Sekunden noch gelebt hat, in den Mund – und schließe die Augen, um die Woge an Geschmack zu genießen, die dem Gaumen zum Zentrum meiner ganzen Wahrnehmung macht und das merkwürdige Gefühl, gerade getötet zu haben, wegdimmt.

Das Fleisch ist von einer mürben, einladenden Elastizität und schmeckt – süss. Frisch, nach Fisch, nach Gischt, klar, aber vor allem erstaunlich süss, eine Süße, die mit Zucker oder vertraut schmeckenden Süßstoffen nichts zu tun hat, sondern wie ein bestimmender Grundton das Orchester der Begleitaromen durchdringt. Dieser süße Geschmack bleibt in meinem Mund stehen, auch als ich das Stück Scampi schon längst geschluckt habe, und ich denke an nichts anderes, als möglichst schnell den Rest vom Fest nachzuschieben, so unverschämt ist dieser Geschmack und so köstlich.

Geschichten vom Töten von Tieren sind heikel, sie fallen in der Regel beschämend auf den zurück, der sie erzählt. Die grässlichste ist wohl die bekannte Story von den europäischen Kolonialherren, die in Afrika das Hirn aus den Schädeln noch lebender Menschenaffen löffeln. Die Geschichte kursiert, seit ich mich erinnern kann, und ich habe keine Ahnung, ob sie stimmt oder ob sie bloß ausgedacht wurde, um auf besonders drastische Weise verabscheuenswürdiges, menschliches Verhalten zu illustrieren.

Im „Johnson“ hingegen werden bloß geringfügig ein paar Grenzen verschoben, ich würde sagen, um drei, vier Meter, denn so weit ist die Küche von unserem Sitzplatz auf der Terrasse entfernt. Keinem Menschen, ausgenommen all jenen Vegetariern und Veganern, die in dieser Diskussion dauerhaft die besseren Karten haben, würde es einfallen, sich über die Tatsache zu echauffieren, dass lebendige, zappelnde Scampi in die Küche getragen werden und tot auf einem Teller wieder heraus, garniert mit Knoblauch, Zitrone und Petersilie.

Es geht allein um die Veranschaulichung der Transition vom Leben zum Tod. Dass eine Delikatesse, bevor sie zu dieser erklärt wird, erhebliches Erregungspotenzial hat, erkannte – und inszenierte – der Koch des Kopenhagener Spitzenrestaurants „Noma“, René Redzepi. Er servierte in seinem notorisch ausgebuchten Lokal als Teil des großen Menüs lebendige, nordische Garnelen auf Eis, und wies die Gäste an, die von der Kälte notdürftig betäubten Tiere in die dazu gereichte Sauce zu tauchen und anschließend mit einem oder zwei Bissen zu verzehren.

Man wusste ohne hinzusehen, wo im Restaurant besagter Teller gerade serviert wurde. Die Gäste - immerhin Menschen, die monatelang darauf gewartet hatten, Flechten, Schnecken und alle möglichen unbekannten Pilze, Beeren und Blätter andächtig zu verzehren – quittierten die Ankunft der zuckenden Tierchen mit ungläubigem Gelächter, zuweilen auch mit teenagermäßigem Kreischen. Viele schickten den Gang zurück, andere wiederum warfen sich atavistisch in Pose – ich! Jäger! – und futterten die Garnelen des ganzen Tisches.

Sicher ist: Redzepis Garnelen waren nicht halb so gut wie die Scampi im „Johnson“. Aber sie machten Schlagzeilen, weil der schlaue, permanent im Schlaglicht der Öffentlichkeit stehende Koch sich auf die reflexartigen Reaktionen der Tierschützer eine schlagende Antwort zurechtgelegt hatte. Für ihn, sagte Redzepi, mache es nicht den geringsten Unterschied, ob eine Garnele von einem Mitarbeiter in der Küche oder von einem Gast im Speisesaal getötet werde.

Dann verwies er auf die wahren Probleme im Umgang des Menschen mit seinen Tieren, die zum Verzehr bestimmt sind: Massentierhaltung, Fast Food, Billigfleisch. Ein weites Feld, in das auch die systematische Unkenntlichmachung von Fleisch als ehemaliges Tier fällt und die Verdrängung des Tötens in hermetisch abgeriegelte Schlachthöfe an der Peripherie – oder wenigstens hinter die Türen der Restaurantküche, wenn man Scampi schon umbringen muss, bevor man sie isst.

Wie ich mich fühle, als wir die Wanne leer gemacht haben?

Okay. Es ist ein Flirt mit dem Tabu, klar, aber ich habe keine Sau erschießen müssen, wie das ein Freund getan hat, der die alte Forderung „Wer Tiere isst, muss sie auch selbst töten können“ ernst nehmen wollte. Außerdem haben wir eine Menge Malvazija getrunken.

Der zweite Griff nach einem lebenden Scampi war bereits sicherer als der erste, und beim dritten habe ich die Technik des Von-schräg-hinten-Zugreifens, um dem Wirkungskreis der Scheren zu entgehen, bereits verinnerlicht.

Das Fieber des Jagens flacht ab, aber die Beute schmeckt so gut, wie sie schmecken kann, und die Sensation dieses Geschmacks lässt nicht nach, nicht beim zweiten, nicht beim dritten, nicht beim vierten Mal, und dann bleibt uns sowieso nichts anderes übrig, eine weitere Flasche Malvazija zu bestellen und auf das Geräusch eines Mitsubishi Colt zu warten, der vielleicht noch heute Nacht Nachschub bringt.

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