Christian Seiler Logo
Christian Seiler Logo
Theme
Theme
Menü öffnen
Menü öffnen
Christian Seiler Logo
Christian Seiler Logo
ReiseGesellschaft

Triest. Was Europa war, ist – und sein könnte

„Dort vorne in der Serpentine“, sagt Veit Heinichen, während er mit seinem Mercedes die Straße von Prosecco zum Santuario Monte Grisa hinaufrumpelt, für meinen Geschmack ein bisschen zu schnell, „dort vorne hat Lauro den tödlichen Schuss abbekommen.“

Er lacht schadenfroh, was okay ist, weil er sich den reaktionären, erzkatholischen Lokalpolitiker Lauro Neri schließlich genauso ausgedacht hat wie dessen tödliche Verletzung durch den Bolzen einer Kampfarmbrust. Heinichen hat auch die erotisch verbrämte Falle aufgestellt, in die Neri tappt, aber das führt fast schon spoilermäßig in die Handlung des Kriminalromans „Entfernte Verwandte“, der in der italienischen Hafenstadt Triest spielt und in den Dörfern auf dem Karst, die zwischen Stadt und slowenischer Grenze liegen.

Heinichens Buch ist ein packender Krimi. Aber noch mehr als die Aufklärung einer mysteriösen Mordserie hat mich das atemberaubende Porträt Triests fasziniert, das der Autor zeichnet: einer Stadt, deren Geschichte kompliziert und vielschichtig ist, und die ohne diese Geschichte nicht verstanden werden kann. Am Aufstieg und Fall Triests ist abzulesen, was Europa ist, war – und was Europa sein könnte.

Des Santuario Monte Grisa heißt bei den Einheimischen „il formaggino“, weil es wie ein dreieckiges Käsestückchen aussieht. Von der Küstenstraße aus wirkt das Gebäude klein und undefinierbar, ein Hotelresort, eine Wohnanlage? Tatsächlich ist es eine brutalistische Betonkirche aus den sechziger Jahren, die es nur gibt, weil der Bischof von Triest und Koper im letzten Kriegsjahr das Gelübde abgelegt hat, eine neue Kirche zu bauen, wenn die Stadt nicht dem Erdboden gleichgemacht wird.

Triest blieb tatsächlich von großen Kriegsverheerungen verschont, wenigstens an der Oberfläche. 1966 war das Santuario fertig und ging in Betrieb.

Der imaginäre Krimitatort befindet sich natürlich nicht zufällig an diesem exponierten Ort. Die außergewöhnliche Lage von Triest ist am besten aus der Vogelperspektive zu verstehen. Es gibt kaum eine Stadt in extremerer Randlage, geographisch und politisch, am Schnittpunkt von Weltlandschaften und Weltanschauungen.

Wir gehen durch zwei übereinander geschachtelte Kirchenschiffe aus Sichtbeton hinaus auf die Terrasse. Es bläst die Bora, der für Triest typische Fallwind aus Ostnordost. Der Blick ist spektakulär. Vor uns die Adria. Draußen im Golf liegen die Frachter, die darauf warten, dass ihre Ladung im Hafen von Triest gelöscht wird. Direkt unter uns die Pineta von Barcola, das Naherholungsgebiet, wo viele Triestiner im Sommer zum Schwimmen gehen. Gleich daneben wurde unter faschistischer Herrschaft die kilometerlange Anlage der Topolini errichtet, ein Band von Terrassen und Umkleideräumen, verblüffend elegant und funktionell.

Etwas weiter stadtauswärts befindet sich die Gartenanlage von Schloss Miramare, dem spektakulärsten Zeugnis der Habsburgerherrschaft über Triest. Das Schloss hatte Maximilian von Österreich, Bruder von Kaiser Franz Josef, Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer vorspringenden Klippe bauen lassen. Bis 1918 diente Miramare dem Kaiser als Sommerresidenz. Jetzt ist es ein Touristenmagnet.

Auf der anderen Seite liegt die Stadt Triest selbst, 204.000 Einwohner, größter Seehafen des adriatischen Meers. Veit Heinichen, 64, rahmenlose Brille, Poloshirt, Leinenschuhe, eine glaubwürdig mediterrane Erscheinung, zeichnet mit ausgestrecktem Arm die Konturen des alten Hafens nach, längst aufgelassen und in einem Zustand fortschreitenden Verfalls. Der neue Hafen ist aus der Stadt hinaus gerückt. Heinichen erklärt mir, wo ich die Piazza dell’Unità d’Italia erkennen kann, den zauberhaften, zum Meer hin offenen Hauptplatz der Stadt, und er deutet auf die Landzungen, die sich am Horizont sehnsuchtsvoll ins Meer schieben.

„Die vordere“, sagt er, „gehört zu Slowenien. Die hintere“ – dort, wo es ein bisschen dunstig wird – „ist schon ein Teil von Istrien, also Kroatien. Im Westen sehen wir die Dolomiten. Wenn das Wetter gut ist“ – er dreht sich abrupt um und lenkt den Blick auf die Berge, die sich hinter dem Karst formieren – „kann man im Norden die österreichischen Alpen sehen.“

Heinichen wendet sich wieder dem „formaggino“ zu: „Und den hier haben die Katholen natürlich nur deswegen hier gebaut, um weit nach Jugoslawien hineinzuleuchten und den Kommunisten zu zeigen, wo der liebe Gott zu Hause ist.“

Der liebe Gott. Die Kommunisten. Jugoslawien. Die Habsburger. Die Faschisten. Triest ist wie ein Baumkuchen, aufgebaut aus unzähligen historischen, ethnischen und kulturellen Schichten.

Hier sprechen die Einwohner italienisch, slowenisch, kroatisch, griechisch, jiddisch, englisch und deutsch. Es leben katholische, protestantische und orthodoxe Christen mit Juden, Muslimen und Agnostikern zusammen, vermischen sich, wechseln Konfessionen und Zugehörigkeiten. Schriftsteller verschiedener Sprachen verfassen bedeutende Werke. Wissenschafter aus aller Welt forschen und lehren auf höchstem Niveau. Kaufleute gründen Firmen, deren Bedeutung weit über die Stadt hinaus strahlt, und eine vernünftige, weltoffene Politik liefert die Grundlage für ein fruchtbares Mit- und Nebeneinander.

Triest, Trieste, Trst. La Città mitteleuropea: So taufte Claudio Magris, einer der bedeutenden Intellektuellen Triests, seine Stadt.

Diese Città ist Triest gewesen, ungefähr 200 Jahre lang, vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Dann begann die vielleicht wechselhafteste Geschichte einer europäischen Metropole.

Als wir von unserem Ausflug nach Opicina hinunter in die Stadt fahren, um andere bedeutungsvolle Schauplätze seiner Romane in Augenschein zu nehmen, geht Heinichen in einer Kurve vom Gas, deutet auf eine Gruppe von Wohnhäusern, die in beneidenswerter Lage am Hang liegen und sagt: „Hier wohnt Boris Pahor, einer unserer großen Schriftsteller.“

Pahor, italienischer Schriftsteller slowenischer Sprache, wurde 1913 geboren. Er ist 108 Jahre alt.

„Immer wieder kriege ich einen Anruf, dass Boris im Sterben liegt“, sagt Heinichen, als ich über das biblische Alter seines Kollegen staune. „Aber bis jetzt hat er jeden angekündigten Tod gut überstanden.“

Dann, während Heinichen den Mercedes wieder auf Betriebsgeschwindigkeit bringt, beginnt er zu zählen, wie viele Fahnen Boris Pahor über seiner Stadt wehen gesehen hat.

1913, in seinem Geburtsjahr, gehörte Triest zu Österreich-Ungarn. Als 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Monarchie zugrunde ging, wurde es dem Königreich Italien zugeschlagen. 1922 übernahm Mussolini mit dem Marsch auf Rom die Macht im Land und verwandelte Italien in eine faschistische Diktatur. 1943, nach der Kapitulation Italiens im Zweiten Weltkrieg, besetzten die bis dahin mit Mussolini verbündeten Nazis die Stadt und fassten sie mit Udine, Gorizia, Pula, Fiume und Laibach zur „Operationszone Adriatisches Küstenland“ zusammen.

Am 1. Mai 1945 befreiten jugoslawische Partisanen unter Marschall Tito die Stadt von den Nazis und stellten Triest unter jugoslawische Verwaltung. Nach nur 40 Tagen Partisanenherrschaft übernahmen die Alliierten, zwei Jahre blieb die Stadt im militärisch verwalteten Schwebezustand zwischen Italien und Jugoslawien. 1947 wurden Triest und Teile des benachbarten Istriens im Pariser Friedensvertrag zum „Freien Territorium Triest“ zusammengefasst, einem neutralen Kleinstaat unter Oberhoheit der Vereinten Nationen. 1954 kam es zur Aufteilung des Gebiets zwischen Italien und Jugoslawien, Triest wurde der italienischen Zivilverwaltung übergeben, die istrischen Gebiete der jugoslawischen.

Boris Pahor war 41 Jahre alt, als er sah, wie die Fahne der italienischen Republik über den Regierungsgebäuden seiner Stadt aufgezogen wurde, die achte Fahne seines Lebens. Er hatte im Widerstand gegen die Nazis gekämpft, war von einer slowenischen Miliz, die mit den Nazis gemeinsame Sache machte, gefangen genommen und auf eine grauenhafte Reise durch mehrere deutsche Konzentrationslager geschickt worden: Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Das Wunder seines Überlebens und die Gespenster, mit denen er seither zu kämpfen hat, verarbeitete er in seinem beklemmenden Roman „Nekropolis“.

Die definitive Bestätigung des Grenzverlaufs von 1954 dauerte übrigens bis 1975. Seither gibt es wenigstens keine offenen Fragen der staatlichen Zugehörigkeit und Grenzverläufe mehr. Aber die Vergangenheit prägt bis heute Biografien, Identitäten und Verbindungen, also das Leben in der Stadt.

Veit Heinichen war Verlagsmanager in der Schweiz und Deutschland, bevor er nach Triest zog. Er besuchte die Stadt zum ersten Mal im Januar 1980, ohne viel mehr über sie zu wissen, als dass sie für ihre Literatur berühmt war.

Als Heinichen aus dem Nachtzug stieg, blies die Bora Mülltonnen über den Bahnhofplatz. Heinichen nahm ein Taxi, vereinbarte einen Preis für einen halben Tag und ließ sich durch Stadt und Umland chauffieren, nach Miramare, hinauf auf den Karst. Eine Osmiza, wie die kleinen Beizen auf dem Land heißen, hatte offen, er bekam eine Mahlzeit. In Triest besichtigte er prächtige Kirchen, die serbisch-orthodoxe, die griechisch-orthodoxe, die Synagoge. Er begriff, dass er Triest in ein paar Tagen nicht begreifen konnte. Kam wieder, nahm sich eine Absteige in der Altstadt, begann von Deutschland zu pendeln. 1997 kaufte er ein Haus ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, Blick über den Golf. Er kündigte seinen Job, um als Schriftsteller zu leben.

Ihm schwebte so etwas wie ein „Noir Mediterraneo“ vor. Im Namen seines Ermittlers Proteo Laurenti – den er mit Freude an philologischen Codes nach einem Grottenolm aus dem Karst benannte – begann sich Heinichen in die Gegenwart Triests einzuarbeiten. Die Laurenti-Krimis fanden schnell Anklang. Zuerst hatten sie im deutschen Original Erfolg, später in insgesamt elf Sprachen. Inzwischen sind die Bücher in Italien am populärsten, Heinichen hat den Sprung vom deutschen zum Triestiner Autor geschafft.

„Ich hatte großes Glück“, sagt er.

Die Basis seines Erfolgs ist die oft aufsehenerregende, minutiöse Recherche, die Heinichen seinen Kriminalromanen zugrunde legt, ganz egal, ob sich sein Kommissar gerade um Menschenschmuggel, Weltkriegsrelikte oder verstecktes Leben in den Ruinen des alten Hafens kümmert. Aus seiner Sonderstellung als Hinzugekommener, der sich von keiner Clique vereinnahmen lässt und keine Leichen im Keller hat, präsentiert er den Einheimischen ihre Stadt so, wie er sie sieht, mit all ihrem Charme, aber auch mit ihren Abgründen, den unvermeidlichen, ihrer Lage und Geschichte geschuldeten Deformationen.

Im Roman „Der Tod wirft lange Schatten“ spürte der Autor ungeklärten Mordfällen aus den siebziger Jahren nach und wirbelte damit erheblichen Staub auf. Nachdem die realen Hintergründe von Heinichens Buchs in einem Dokumentarfilm der RAI neu beleuchtet wurden, begann 2008 eine professionell orchestrierte Rufmordkampagne gegen den Autor. 14 Monate lang gingen üble Verleumdungen per Brief an städtische Einrichtungen, Buchhandlungen, Verlage und Freunde, dann trat er die Flucht nach vorne an und machte die Kampagne mit Hilfe der Lokalzeitung „Il Piccolo“ öffentlich. Die Geschichte ging um die Welt. Die Ermittler vermuten, dass Heinichen einer rechten Mafia auf die Füße gestiegen war. Schriftstellerkollegen und Kulturschaffende solidarisierten sich mit ihm. Triests damaliger Bürgermeister meinte hingegen, Heinichen solle nicht so zimperlich sein. Jede öffentliche Person bekomme irgendwann einmal Drohbriefe. Triests scheinbar schlafende Geschichte zeigte ihre Zähne.

Wir spazieren über den Cimitero di Sant’Anna, Triests im Jahr 1825 angelegten Zentralfriedhof. Nirgendwo sonst in Triest sind die Veränderungen, die diese Stadt geprägt haben, so unbestechlich dokumentiert.

Veit Heinichen führt mich zuerst pflichtbewusst ans Grab des Schriftstellers Ettore Schmitz, der unter seinem Künstlernamen Italo Svevo (1861 – 1928) weltberühmt ist. Obwohl jüdischer Herkunft, liegt Ettore Schmitz auf dem katholischen Friedhof. Er hatte in den katholischen Triestiner Handelswohlstand eingeheiratet. So bekam er überhaupt erst die Möglichkeit, unbelastet von ökonomischen Sorgen zu schreiben.

„200 Jahre lang war es in Triest nicht wichtig, wie du geboren wurdest“, sagt Heinichen. „Wichtig war nur, wie du dich vermischt hast.“

Wir schlendern am Grab von Giorgio Strehler vorbei, dem epochalen Regisseur. Jemand hat ihm Blumen auf die Grabplatte gelegt. Auf den Grabsteinen rundherum stehen deutsche, italienische, slawische Namen. Auch der Triestiner Dialekt ist voll von Worten, die aus dem Französischen, dem Griechischen, dem Deutschen und dem Slowenischen ausgeliehen wurden. In einem berühmten Brief an seine Frau schrieb der Triestiner Schriftsteller Scipio Slataper (1888 – 1915) die maßgeblichen Zeilen: „Du weisst, dass ich Slawe, Deutscher und Italiener bin.“

Vor dem Grab von Umberto Saba bleiben wir stehen. Auch Saba – hebräisch für Großvater – hat seine jüdische Herkunft hinter sich gelassen und liegt in katholisch geweihter Erde. Sein Antiquariat, in den dreißiger Jahren Drehscheibe des literarischen Lebens, befand sich in der Via San Nicolo Nr. 30. Dort hatte ein paar Jahre vorher auch James Joyce gewohnt. Dessen Bruder Stanislaus ist übrigens unweit von Saba auf dem anglikanischen Friedhof begraben.

Wir schließen noch eine Runde über den griechisch-orthodoxen Friedhof an, wo die Grabmäler immens sind und den Wohlstand jener dokumentieren, deren Erinnerung sie wahren. Eine einsame Restauratorin ist damit beschäftigt, unlesbare Schriftzüge zu erneuern und mit Goldfarbe zu füllen.

„Ohne den Beitrag der griechischen Kaufleute“, sagt Heinichen, „wäre Triests wirtschaftlicher Aufstieg viel langsamer gewesen.“

So aber haben die Reeder, Unternehmer und Händler aus Griechenland die Stadt mit Wohlstand geflutet und Triest mehr oder weniger zufällig zu einer Brutstätte der Literatur gemacht. Triest war im 19. Jahrhundert eine „Stadt ohne kulturelle Traditionen“, schreiben der Germanist Claudio Magris und der Historiker Angelo Ara in ihrem Porträt „Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa“: „Wie Dublin wird Triest dank seiner Armut an kulturellen Traditionen des 19. Jahrhunderts zu einer Kapitale der Dichtung. (…) Die Literatur entsteht aus der gesellschaftlichen Norm und übertritt sie zugleich. Der Schriftsteller verbirgt sich hinter dem Kaufmann, aber jeder Kaufmann ist ein potentieller Schriftsteller.“

Inzwischen weiß Triest, was es seinen Schriftstellern schuldig ist und hat Bronzestatuen von Svevo, Saba und Joyce in der Altstadt verteilt.

Heinichen kümmert sich in seinen Büchern wenig um den Glanz der literarischen Vergangenheit. Nur für das Ende von „Fremde Verwandte“ nahm er ausnahmsweise eine Anleihe bei Umberto Saba, dem tragischen Poeten, an dessen Grab wir gerade gestanden waren. Heinichen lässt den letzten Paukenschlag der Handlung an der Küstenstraße stattfinden, wo in einer Parkbucht ein monumentaler Kalkstein steht, an dem eine Platte mit einem Vers aus einem Gedicht Sabas befestigt ist.

„Ich hatte eine schöne Stadt zwischen den Bergen, so felsig, und dem lichterfüllten Meer. Die meine,
weil ich hier geboren wurde, und mehr als andere auch meine, weil ich als Knabe sie entdeckte, erwachsen sie im Gedicht für immer Italien verband.“

Sabas Gedicht ist hier aber nicht zu Ende. Es geht so weiter:

„Man musste von etwas leben. Unter Übeln hab ich das Schicklichste gewählt: ein kleines, erlesenes Geschäft für alte Bücher war es. Alles haben sie mir genommen, der schäbige Faschist und der gefräß’ge Deutsche.“

Saba hatte die Stadt verlassen müssen, nachdem Benito Mussolini 1938 für die Proklamation seiner Rassengesetze ausgerechnet das multiethnische Triest gewählt hatte, mit viel Gefühl für – wie Saba es formuliert: „schäbige“ Symbolik. Schon wenige Tage nach der Installation des Regimes war es verboten, auf der Straße eine andere Sprache als Italienisch zu sprechen – in einem Staat, der heute in seiner Verfassung zwölf Sprachen schützt, die neben der Landessprache gesprochen werden.

Der „gefräß’ge Deutsche“ war zur Stelle, als die italienischen Truppen 1943 vor den Alliierten kapitulierten und das Bündnis mit den Nazis aufkündigten. Auch diese Spuren will mir Veit Heinichen zeigen.

Wir fahren am futuristischen Fußballstadion der US Triestina vorbei, die derzeit in der Serie C dümpelt. Auf dem Hügel, der hier vom Meer aufsteigt, im Stadtteil Servola, wurde früher das Brot für ganz Triest gebacken. Nur wenige hundert Meter vom Meer entfernt befindet sich die Risiera di San Sabba. Die Nazis verwandelten, kaum hatten sie Triest unter Kontrolle, die ehemalige Reismehlfabrik 1943 in ein Konzentrationslager.

Risiera di San Sabba, ehemaliges Konzentrationslager. Foto: Matteo de Mayda

Der Architekt Romano Boico hat das fünfstöckige Backsteingebäude, das seit 1965 eine „nationale Gedenkstätte“ ist, mit hohen Sichtbetonmauern eingefasst, um den historischen Teil des Gebäudes zur Geltung zu bringen. Der sonst so heitere Heinichen friert schlagartig ein, als wir durch die lange, enge Betonschlucht gehen, die in die Risiera führt. Er ist aufgeladen vom Katalog der Unmenschlichkeiten, die in diesem Gebäude begangen wurden.

Auf der linken Seite des Gebäudes befinden sich die Todeszellen. Ein privater Archivar hat die erschütternden Inschriften an der Wand konserviert. An der Feuermauer des Gebäudes sehen wir die Umrisse des Krematoriums, das die Spezialisten der Nazis im Handumdrehen an den Rauchfang der Fabrik angeschlossen hatten. Aus Wien ließen sich die Besatzer Omnibusse liefern, die zu Gaskammern umgebaut waren.

Die extra angeforderten Spezialisten aus dem Deutschen Reich, angeführt vom SS-Gruppenführer Odilo Globocnik und dessen Einheit von etwa 90 SS-Mitgliedern samt ukrainischen Handlangern, „töteten die Menschen durch Erhängen, Erschießung, Vergasung und Knüppelschläge an den Kopf.“ So steht es lakonisch in der Dokumentation der Gedenkstätte. Tausende Triestiner Juden wurden in der Risiera festgehalten und in Viehwaggons nach Auschwitz, Dachau, Mauthausen oder andere Vernichtungslager gebracht. Die meisten von ihnen kamen in den Gaskammern um.

Wir stehen im Hof der Risiera, und Heinichen erzählt Detail um Detail. Es ist schauderhaft. Die Aufzeichnungen darüber, wie viele Menschen in der Risiera starben, vernichteten die Nazis vor ihrem Abzug genauso wie das Krematorium, wo sie die Leichen verbrannten. Die Schätzungen belaufen sich auf zwei- bis fünftausend.

An einem anderen Tag fahren wir über den Karst. Ohne sein Hinterland kann Triest auf keinen Fall verstanden werden, sagt Heinichen, und natürlich verhehlt er als deklarierter Genussmensch auch nicht den eigennützigen Hintergedanken, bei der einen oder anderen Osmiza Halt zu machen und uns einen Imbiss zu gönnen.

Triests Hinterland ist eine idyllische, charaktervolle Landschaft, Wälder, Weingärten, unzählige Grotten im Kalkstein. Die Grenze zwischen Italien und Slowenien verläuft direkt hier, die Dörfer werden durchwegs von zweisprachigen Ortstafeln angekündigt. Heinichen liebt die Weine des Karsts, kennt jeden ambitionierten Winzer, schätzt die einfachen Gerichte, die man hier isst und die so anders sind als die vielfältige Fischküche an der nur wenige Kilometer entfernten Küste.

Aber wir besuchen auch Gedenkorte, denn auch hier, in der Idylle, lässt sich die Vergangenheit nicht einfach wegromantisieren. Einige dieser Orte spielen in Heinichens Roman eine zentrale Rolle, werden zum symbolisch aufgeladenen Schauplatz der Verbrechen, die Commissario Laurenti aufklären muss. Am Mahnmal von Prosecco, das an die getöteten Widerstandskämpfer aus dem Ort erinnert, stirbt im Roman der Nachkomme eines Denunzianten – auch er durch den Bolzen einer Kampfarmbrust.

Bei seiner anschließenden Suche nach der Unterkunft des Opfers findet der Kommissar im Wald bei Opicina zufällig einen Gedenkstein für 29 sowjetische Soldaten, die von den Nazis gefangen genommen waren. Am 2. Mai 1945, als die Stadt Triest schon von britischen und neuseeländischen Einheiten besetzt worden war, wurden sie von den fliehenden Nazis noch hingerichtet, mehr sinnlose Grausamkeit kann man sich nicht vorstellen. Laurenti geht im Roman die Wette ein, „dass in Triest und Umland keine zwanzig Bürger davon wussten“.

In Opicina selbst erinnert ein Mahnmal an einundsiebzig Zivilisten, die nach einem Bombenanschlag auf einen Kinosaal der deutschen Wehrmacht als Geiseln genommen und tags darauf erschossen worden waren. Es ist nur eines von vielen Denkmälern, die an Gräueltaten gegen Zivilisten erinnern.

Mit dem Mahnmal in Opicina verbindet Veit Heinichen etwas Außergewöhnliches. 2014 wurde er vom Partisanenverband eingeladen, bei der offiziellen Gedenkveranstaltung die Gedenkrede zum 70. Jahrestag zu halten. Mehr Ehre kann einem Deutschen im Mienenfeld der Erinnerungen von Triest kaum widerfahren, aber die Ehre bedeutet auch Verpflichtung. Heinichen begann sich nach seiner Zusage fanatisch in die Zeitgeschichte zu vertiefen, befragte Zeitzeugen, verschaffte sich das historische Fundament, auf dem sein aktueller Roman steht und fand dabei heraus, wie unterschiedlich noch heute die Fakten dies- und jenseits der Grenzen interpretiert werden,

Nach dem Erscheinen von „Die Toten vom Karst“ bekam er drei lange Briefe einer mutmaßlich älteren Dame, die eindringlich und detailliert von ihrer Kindheit in der Gegend erzählte. Heinichen lernte von neuem dazu, auch wenn die Absenderin bis zuletzt seine Fragen unbeantwortet ließ und mit ihren Schilderungen am Ende genauso viele Rätsel aufgab wie sie löste. Aber das ist das Wesen von Geschichte. Sie kennt Fakten, aber sie kennt keine Eindeutigkeit.

Einer der merkwürdigsten Orte, die wir aufsuchen, ist der ehemalige Soldatenfriedhof der Deutschen Wehrmacht in einem Wäldchen hinter dem Campingplatz von Opicina. Der Weg, für den Heinichen sogar den Mercedes stehen lassen muss, ein bisschen verärgert über Wanderwege, die man nicht mit dem Auto befahren kann, führt am Zaun des Campeggio Clubs vorbei. Einige Wohnwägen werden offenbar ganzjährig bewohnt, wir schleichen an einer Art Trailerpark vorbei, mit atemberaubender Aussicht über den Golf von Triest.

Der Soldatenfriedhof ist längst aufgelöst. Zwischen verrenkten Steineichen steht im Halblicht des Waldes eine Art Altar, an dessen Vorderseite mit weißer Farbe ein deutsches Soldatenkreuz gepinselt wurde. Es ist noch immer deutlich zu erkennen.

„Die Deutschen hatten gute Farben“, sagt Heinichen sarkastisch und etwas außer Atem. Trotzig zündet er sich eine Zigarette an.

Auf dem Wehrmachtsaltar lässt er eine der schillerndsten Figuren seines Romans zu Tode kommen: einen ehemaligen SS-Offizier, der Partisanen gejagt hatte, nach Kriegsende in Österreich untergetaucht war und wie zahlreiche andere Kriegsverbrecher als „Flüchtling“ wieder zurück nach Italien kam, unterstützt vom amerikanischen Geheimdienst und deutschen Kameradschaftsverbänden.

„Das Schlimmste ist“, sagt Heinichen, „dass viele Täter ungehindert untertauchen konnten, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ Anderswo tauchten sie wieder auf und sortierten sich in die Gesellschaft ein, deren Auslöschung sie gerade noch betrieben hatten. Nicht nur deutsche Kriegsverbrecher retten sich so in die Gegenwart, darauf legt Heinichen Wert.

In Italien sorgte die Amnestie des kommunistischen Justizministers Palmiro Togliatti 1946 dafür, dass zahllose faschistische Kriegsverbrecher ohne Strafe davonkamen. Der römische Historiker Davide Conti belegte in einer Studie, dass ehemalige Täter ohne großes Aufsehen zum Wiederaufbau des neuen Staates herangezogen wurden.

In Jugoslawien wiederum glorifizierte die kommunistische Geschichtsschreibung den Kampf der Partisanen gegen Faschisten und Nazis und ließ die brutalen Übergriffe und Verbrechen einzelner Partisanenverbände bewusst unter den Tisch fallen. Wie grausam die Partisanen ihrerseits vorgingen, wie sie Zivilisten, die sich nicht am Widerstand beteiligten, als Kollaborateure behandelten, enteigneten und ermordeten, wird erst seit relativ kurzer Zeit erforscht – und von den nationalen Geschichtsschreibungen der jugoslawischen Nachfolgestaaten äußerst unterschiedlich interpretiert. Unbestritten ist nur, dass es nach Kriegsende zu zahllosen Massakern und Massenmorden an Flüchtlingen kam. Aktuelle Schätzungen belaufen sich auf 60.000 Opfer.

„Die Tito-Truppen haben doch auch wie die Berserker gewütet“, sagt ein alter Mann in Heinichens Roman dem recherchierenden Commissario. „Alles hatte seine Gründe. Geschichte muss man lesen können. Es gibt Hunderte Versionen, aber nicht jede entspricht der Wahrheit. Geschichte wird verbogen, je nachdem, wer an der Macht ist. Und wenn einer behauptet, seine Version sei die einzig wahre, ist er entweder bescheuert oder besoffen.“

In San Pelagio nehmen wir einen Imbiss in Ivanas Osmiza. Es ist warm genug, dass wir draußen zwischen den Olivenbäumen sitzen können. Wir bestellen Schinken und Weißwein, großartigen Vitovska vom Karst.

„Das erste, was ich in Triest entdeckte“, sagt Heinichen, nachdem wir uns gestärkt haben, „waren Widersprüche. Und als ich den Widersprüchen nachging, konnte ich kein Ende dieser Widersprüche finden. Geschichte ist keine exakte Wissenschaft. In verschiedenen Sprachen stieß ich auf höchst unterschiedliche Geschichtsschreibungen und Benennungen. Am Ende stand ich vor der Frage: Gibt es überhaupt eine einzige Wahrheit? Oder entsteht diese erst als Summe verschiedener Wahrheiten?“

Er nimmt einen Schluck Wein und lässt der großen Frage ihren Raum.

„Ich bin kein Schriftsteller, der Antworten gibt“, sagt Heinichen dann. „Ich bin ein Schriftsteller, der Fragen stellt. Ich biete Geschichten an, keine Wahrheiten.“

Wir sprechen über die faszinierenden Facetten der Stadt Triest, die Vielschichtigkeit ihrer Kultur, die einander ergänzenden und widersprechenden Traditionen, die einstige Vielstimmigkeit der Religionen und Weltanschauungen, wie sie schon Karl Marx gepriesen hatte – „Triest hatte gleich den Vereinigten Staaten den Vorzug, überhaupt keine Vergangenheit zu besitzen“, schrieb Marx 1857 in einer begeisterten Reportage für die New York Daily Tribune. Wir sprechen über die Modellhaftigkeit einer europäischen Mustermetropole, die von Nationalismen vergiftet wurde, und natürlich sprechen wir auch über die Schatten, die im Licht der Geschichte zum Vorschein kommen.

„Es wird dir anders“, sagt Heinichen, „wenn du beim Recherchieren draufkommst, dass an jedem zweiten Baum jemand aufgeknüpft wurde.“

Seufzend fragen manche der Figuren Heinichens, ob mit den Geschichten von damals nicht endlich einmal Schluss sein kann.

Heinichen hat sich entschieden, dieser im kollektiven Bewusstsein der Stadt tief verankerten Frage seine Geschichten entgegenzustellen. Unsentimental sorgt er für Kontext und Aufklärung. In seinem Roman lässt er dafür historisch gebildete Kenner der Triestiner Widersprüche auf einen Rachefeldzug gehen, genau, mit Kampfarmbrust.

Heinichen selbst, der sich nach 42 Jahren in der Stadt als „Triestiner deutscher Herkunft“ betrachtet, fühlt eine Verpflichtung, die Stadt, die ihm ans Herz gewachsen ist, in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Dazu gehören ihre doppelten Böden genauso wie die brüchige Schönheit und die schwebende, abseitige Atmosphäre, die Jan Morris, eine walisische Reiseschriftstellerin, als „The Meaning of Nowhere“ beschrieb.

Wir reden also auch über die Cafés, die schöner als die in Wien sind, die Winde aus allen Himmelsrichtungen, wie sie auf dem Molo Audace gegenüber der Piazza dell’Unità mit einer kunstvollen, metallenen Windrose gefeiert werden, die Buffets, in denen die Österreicher geselchtes Schweinernes fressen und sich freuen, wie gut die italienische Küche ist, über den Blick aufs Meer, der am Horizont gleichzeitig die Alpen enthält, den Salzgeschmack in den Weinen des Karsts, die Geschmeidigkeit des Pršut, wie der dünn geschnittene, luftgetrocknete Schinken auf dem Karst heisst.

Wir reden darüber, dass chinesische Reeder sich in den neuen Hafen eingekauft haben, wobei das, laut Heinichen, gern übertrieben dargestellt wird. Der alte Hafen ist noch immer eine Ruinenstadt und wird es wohl noch einige Zeit bleiben, weil die politischen Kräfte, die einen Masterplan für das Areal entwickelt haben, bei der letzten Kommunalwahl keine Mehrheit bekamen. Allerdings bringen sich gerade große Immobilienunternehmen in der Stadt in Stellung, weil Wohnungen und Häuser in Triest im internationalen Vergleich noch immer gar nichts kosten, was sich wahrscheinlich ziemlich bald ändern wird.

Wir befinden uns im Dilemma der Gleichzeitigkeit, und wir wissen es. Das eine Triest ist ohne das andere nicht zu haben, so wie die europäische Idee ohne die historischen Abgründe nicht verstanden werden kann. Als ich ins Innere der Osmiza gehe, um bei Ivana die Rechnung zu bezahlen, bleibe ich vor der Wand stehen, wo unter einem Porträt von Kaiser Franz Joseph in vier Sprachen dessen Adresse „An meine Völker“ angeschlagen ist, in der der Kaiser darüber informiert, dass Italien „ihm“ den Krieg erklärt habe. Datum: 23. Mai 1915.

Ein Porträt von Papst Johannes XXIII. flankiert das des Kaisers, und daneben hängen Schwarzweißfotos von einem General und einem Pfarrer, glaube ich jedenfalls, und dann sehe ich noch ein Schlachtenfoto mit genauer Erklärung, aber ich habe keine Lust mehr, zu erfahren, welche Schlacht und welche Soldaten.

Ich desinfiziere mir die Hände mit dem Mittel, das unter dem Schlachtenpanorama steht, bezahle die Rechnung und gehe zurück zu Veit Heinichen, der zwischen den Olivenbäumen auf mich wartet.

Vielleicht trinken wir doch noch ein Glas. Vielleicht erzählt er mir noch eine Geschichte.

Umberto Saba-Gedenkstein an der Küstenstraße. Foto: Matteo de Mayda
vorherige Geschichte lesen
nächste Geschichte lesen