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KulinarikGesellschaft

Gesundheit!

Die Wahrheit übers Trinken? Differenzierter, als Abstinenzler behaupten. Weniger schön, als die Verharmloser meinen.

Ich trinke Alkohol. Vielleicht müsste ich auch sagen: Ich trinke immer noch Alkohol, oder: Anders als viele Kolleginnen und Kollegen, die gerade lange, detailverliebte Bücher darüber geschrieben haben, wie super es ist, keinen Alkohol mehr zu trinken, trinke ich sogar gern Alkohol. Im temporären Verzicht auf Alkohol – jedes Jahr drei Monate am Stück, es ist schliesslich Fastenzeit – suche ich nicht Transzendenz und Klarheit, sondern die leberentlastende Selbstverständlichkeit, dass es keine gute Idee ist, sich jeden Tag die Kante zu geben.


Die Macht der Statistik


Der Genuss von Alkohol ist nicht gesund. Ich habe mich jetzt nicht etwa verschrieben, weil ich eigentlich sagen wollte, der «übermässige Genuss von Alkohol» sei nicht gesund. Ich referiere nur den aktuellen Stand der Forschung, der sich gerade massiv zu Ungunsten von uns Trinkerinnen und Trinkern verändert.

Schon seit Jahren schlage ich mich mit der Evaluierung des Begriffs «übermässiger Alkoholgenuss» herum. Es gibt dazu deprimierend klare Durchsagen des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Das Bundesamt unterscheidet «episodisch risikoreichen» und «chronisch risikoreichen Konsum». Episodisch risikoreich sei der Konsum einer grossen Menge Alkohol – «bei Frauen mindestens vier Gläser und bei Männern mindestens fünf Gläser innerhalb einiger Stunden mindestens einmal pro Monat.» Der «chronisch risikoreiche Konsum» beginne bei zwei Standardgläsern Alkohol pro Tag (bei Frauen), beziehungsweise bei vier Standardgläsern bei Männern.

Es könnte an meiner sozialen Prägung, vielleicht auch an meinem Beruf als Foodautor liegen, dass mich weder die Zahlen der episodisch noch der chronisch risikoreichen Trinker und Trinkerinnen besonders beeindrucken. «Episodisch risikoreich» trinken 14,7 Prozent der Gesamtbevölkerung (18,9 Prozent der Männer und 10,7 Prozent der Frauen, darunter garantiert eine Menge meiner Freundinnen und Freunde). 3,4 Prozent der Frauen und 4,4 Prozent der Männer ab 15 trinken «chronisch risikoreich». 

Ich weiss übrigens sehr genau, dass Alkohol ein Nervengift ist, Menschen abhängig macht und bei, genau, «übermässigem Konsum» schwere Schäden anrichtet, gesundheitlich, gesellschaftlich, volkswirtschaftlich. Ich kenne persönlich Menschen, die der Sucht verfallen sind und dafür teuer bezahlen mussten. Die «Schweizer Koordinations- und Fachstelle Sucht» schätzt, dass allein in der Schweiz 250.000 bis 300.000 Menschen alkoholabhängig sind und dass pro Jahr 1600 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums sterben. Aus derselben Quelle stammt die Schätzung, dass der Missbrauch von Alkohol pro Jahr soziale Kosten von 2,8 Milliarden Franken verursacht. Das nur, damit Sie nicht glauben, dass ich Ihnen hier ein Plädoyer für ungehemmtes Saufen unterjubeln will.

Neue wissenschaftliche Arbeiten zeichnen aber ein noch viel zugespitzteres Bild. 2023 erschien eine Meta-Analyse, die 107 Studien aus den letzten vierzig Jahren untersuchte und zu dem apodiktischen Ergebnis kam, dass keine noch so geringe Menge Alkohol der Gesundheit zuträglich sei. 

Das steht natürlich im Widerspruch zu jener lange Jahre verbreiteten, wohligen Überzeugung, dass ein einzelnes Glas Rotwein nicht nur nicht schädlich, sondern sogar unserer Herzgesundheit zuträglich sei (Mittelmeerdiät, können Sie sich erinnern?). Davon gleich mehr. Die Zeitschrift Nature publizierte einen Text, in dem bereits geringer bis moderater Alkoholgenuss – ein bis zwei Gläser Wein oder Bier pro Tag, bei Frauen noch weniger – dafür sorgen kann, dass das Gehirn schrumpft wie sonst nur im hohen Alter. In der Washington Post erschien ein Artikel mit dem Titel «Mehr als ein alkoholisches Getränk pro Tag erhöht das Risiko für Herzerkrankungen bei Frauen». Kanada hat inzwischen seine Richtlinien für den Alkoholkonsum verschärft, wie auch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Auch Japan empfahl 2024 unter Hinweis auf die Richtlinien der WHO neue Maximaldosen. Die USA, die bekanntlich von einem Abstinenzler regiert werden, sind gerade dabei, ihre Ernährungsrichtlinien zu aktualisieren. Sie werden zwangsläufig auch Empfehlungen zum Alkoholkonsum enthalten, und es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft, in welche Richtung diese weisen werden (ausser Verteidigungsminister Pete Hegseth leitet das Expertenkomitee).


Der Mann hinter den Zahlen


Es ist spektakulär, dass selbst weltweite Trends – und die Umdeutung der Gefahren von Alkohol für unsere Gesundheit ist so ein Trend – auf die Arbeit einer einzelnen Persönlichkeit zurückgeführt werden können. Diese Persönlichkeit ist der kanadische Wissenschaftler Tim Stockwell. Er forscht am «Canadian Institute for Substance Use Research» an der University of Victoria und war bis 2020 dessen Direktor. Stockwell ist ein Mann mit einer unendlich langen Publikationsliste und dem Talent, komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge publikumswirksam zuzuspitzen. 

Das tat er in einem früheren Abschnitt seiner Karriere übrigens gerne, um sich für die gesundheitlichen Vorteile des Alkoholkonsums zu verwenden – richtig gelesen, für die Vorteile! In einem Kommentar für die führende medizinische Fachzeitschrift Australiens schrieb Stockwell, dass Kritiker der Auffassung, dass moderater Alkoholgenuss gesund sei,«vernünftigerweise in dieselbe Kategorie wie Zweifler an bemannten Mondmissionen und Mitglieder der Flat Earth Society» eingeordnet werden sollten.

Dann geschah etwas Interessantes. Stockwell bekam einen Anruf von Kaye Middleton Fillmore, einer Soziologin an der University of California in San Francisco. Fillmore interpretierte gewisse Variablen in Stockwells Studien anders als er: So waren unter der Kategorie «Abstinenzler» auch Menschen eingeordnet worden, die zwar nicht mehr tranken, aber zum Teil Trinker gewesen waren. Gemässigte Trinker sahen dagegen vergleichsweise gesund aus, was den Eindruck erweckte, eine moderate Menge Alkohol habe sich als vorteilhaft für ihre Gesundheit erwiesen.

Stockwell gab die Schwächen seiner Studie zu. Er zeigte sich sogar bereit, sie gemeinsam mit Fillmore noch einmal zu überarbeiten. 2006 veröffentlichten die beiden die Studie «Mässiger Alkoholkonsum und reduziertes Sterberisiko: systematische Fehler in prospektiven Studien und neue Hypothesen», die Fillmores Zweifel mit Fakten unterfütterte, aber nicht über die akademische Welt hinaus wahrgenommen wurde. 

Stockwell allerdings hatte Lunte gerochen. Er ging weiter der Frage nach, ob die Fehler, die Fillmore aufgedeckt hatte, nicht auch bereits in anderen Studien gemacht worden waren. Diese Arbeit wiederum führte siebenzehn Jahre später zur bereits zitierten Meta-Analyse von 2023. Diesmal traf die Publikation voll den Zeitgeist. Sie ist derzeit die mit Abstand am häufigsten verwendete Datenbasis für die Annahme, dass «kein Mass an Alkoholkonsum» gesund sei. Stockwell hat also – entschuldigen Sie den dummen, aber unwiderstehlichen Witz – tatsächlich herausgefunden, dass die Erde eine Scheibe ist.

Im New York Times Magazine unterzog sich die Journalistin Susan Dominus unter dem Titel «Is That Drink Worth It to You?» – «Ist ihnen dieser Drink das wert?» – einer risikomässigen Selbstanalyse. Sie suchte Stockwell persönlich auf, um ihn zu fragen, welches Risiko sie eingehe, wenn sie zum Beispiel sechs Drinks pro Woche zu sich nähme, also – bei einem Tag Pause – jeden Tag ein Glas Bier, Sekt oder Wein. 

Stockwell antwortete, dass sich dadurch ihr «lebenslanges Risiko, an einer alkoholbedingten Ursache zu sterben, um den Faktor zehn erhöhe, verglichen mit jenen Menschen, die nur etwa ein oder zwei Drinks pro Woche tränken.» 

Dominus beschreibt, wie sie über dieses sprunghaft steigende Risiko erschrak, allerdings nur solange, bis ihr Stockwell den grösseren Zusammenhang erklärte: «Wenn ich sechs Drinks pro Woche konsumierte, war das Risiko, an einer alkoholbedingten Ursache zu sterben, im Durchschnitt immer noch gering – nur etwa ein Prozent. Und wenn mein Risiko der Gesamtmortalität ziemlich niedrig war – Stockwell versicherte mir, dass es das mit meinen 53 Jahren war –, dann war auch jedes zusätzliche Risiko, das darüber hinausging, eindeutig sehr gering.»

An Stockwells kolportierter Grundaussage – «Kein Mass an Alkoholkonsum ist gesund» – ändert diese doch recht aufschlussreiche Relativierung allerdings nichts. 

Und damit fangen die Probleme bei der Einordnung der Botschaft erst an.


Wer will eigentlich, dass wir keinen Alkohol trinken?


Um zu verstehen, wie die Abkehr vom Alkohol in den Mittelpunkt der internationalen Gesundheitspolitik rückte, braucht es einen Blick zurück ins Jahr 2015. In diesem Jahr kam es beim «EU-Forum für Alkohol und Gesundheit» zu einem Skandal. Mehr als zwanzig Organisationen des öffentlichen Gesundheitswesens traten aus der Institution aus, in der sich bis dahin Gesetzgeber, Lobbyisten des Alkoholsektors und Experten des öffentlichen Gesundheitswesens beraten hatten, wie die alkoholbedingten Schäden in der EU reduziert werden können. Diese Schäden belaufen sich in der gesamten EU auf ca. 120.000 vorzeitige Todesfälle und volkswirtschaftliche Kosten von mehr als 125 Milliarden Euro.

An den Platz des bedeutungslos gewordenen Forums trat die Weltgesundheitsorganisation WHO, die 2018 die Initiative SAFER vorstellte, Untertitel: «Eine Welt, frei von alkoholbedingten Schäden». Das Projekt, das die WHO «gemeinsam mit internationalen Partnern» aus der Wiege gehoben hatte, stellte sich mit einer ganzen Reihe von Forderungen vor: Die Verfügbarkeit von Alkohol beschränken. Massnahmen gegen Alkohol am Steuer vorantreiben. Den Zugang zu Gesundheitsmassnahmen erleichtern. Alkoholwerbung, Sponsoring und Verkaufsförderung verbieten oder beschränken. Alkoholpreise durch Verbrauchssteuern und Preispolitik anheben.

Besonderes Gewicht bekam die Initiative natürlich dadurch, dass ihr Absender die höchstrangige Gesundheitsorganisation der Welt ist. Über die «internationalen Partner» hingegen erfuhr man wenig bis gar nichts. Es bedurfte einer Recherche der Autorin Felicity Carter für die Website «Wine Business Monthly», um einige Hintergründe auszuleuchten. 

So gehört neben den Vereinten Nationen auch die gemeinnützige New Yorker Agentur «Vital Strategies» zu den WHO-Unterstützern, die sich in ihrer Lobbyarbeit gegen den Tabakkonsum einen Namen gemacht hat. Zu den anderen Partnern zählen «Movendi International», eine Organisation, die aus der «Independent Order of Good Templars (I.O.G.T.)», den sogenannten Guttemplern, hervorgegangen ist, und die «Global Alcohol Policy Alliance». Bei letzteren handelt es sich um deklarierte Anti-Alkohol-Lobbyisten, sogenannte Abstinenzlergruppen. Sie sind es, die die WHO beim Thema Alkohol beraten. 

Es wird Sie vielleicht überraschen, dass ich überhaupt nichts gegen Menschen habe, die keinen Alkohol trinken und keine Drogen nehmen. Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie sich zu Gruppen zusammenschliessen und einander versichern, dass ihr Lebensstil der einzig richtige ist. Aber ich bin nicht einverstanden mit der apodiktischen Position, die Movendi gegenüber den Produzentinnen und Produzenten von Alkohol einnimmt. 

Alkoholherstellung bedeutet für Movendi schlicht Big Alcohol, also die volle Power industrieller Wucht zur Gewinnmaximierung auf Kosten der Gesundheit ihrer Kundschaft. Die Arbeit von Movendi zielt darauf, die Alkoholindustrie als eine homogene Gruppe darzustellen und diese an der Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit zu hindern. 

Andere Abstinenzgruppen wie das «Institute of Alcohol Studies» in London stossen ins gleiche Horn. Das Institut wird vom «Alliance House»finanziert, das wiederum von religiös motivierten Abstinenzlern geleitet wird. Die gemeinnützige Organisation «GiveWell» der New Yorker Agentur Vital Strategies unterstützte Gleichgesinnte, unter ihnen die WHO, Movendi International und andere Anti-Alkohol-NGOs, im Jahr 2022 mit 15 Millionen Dollar. Daraus entstand die Initiative mit dem Namen RESET, die sich für höhere Alkoholsteuern einsetzt und die Verfügbarkeit von Alkohol beschränken will. Die gemeinsame Botschaft, die immer und immer wieder getrommelt wird, ist jene von Tim Stockwell. Sie lautet, wie Sie längst wissen: «Kein Mass an Alkoholkonsum ist gesund».


Die Hintermänner und Stockwells Studie


Als im August 2023 die neuen Alkoholrichtlinien das «Canadian Centre for Substance Use and Abuse» (CSSA) in Kraft traten, fegten diese bisherige Gewissheiten vom Tisch. Bis dahin hatte das CSSA empfohlen, dass Männer nicht mehr als fünfzehn und Frauen nicht mehr als zehn Drinks pro Woche nehmen sollten, eine Grössenordnung, in die auch mein Alkoholgenuss passen würde. Die neuen Richtlinien reduzierten die Obergrenzen auf drei Getränke pro Woche. Ab dann, so die CSSA, steige das Risiko, an Krebs zu erkranken.

Auch das CSSA bezieht sich auf Tim Stockwells Meta-Analyse. Allerdings blieben die krassen Richtlinien des Instituts nicht unwidersprochen. Bis dahin hatten sich nämlich Wissenschaftler und Millionen Menschen auf ganz andere medizinische Erkenntnisse verlassen. 

Wichtigster Grundsatz: Alkohol ist dosisabhängig. Bei niedrigem Konsum sinkt die Sterblichkeit sogar – die entsprechenden Ergebnisse waren Grundlage für das Verständnis des täglichen Glas Rotweins als gesundheitsfördernd.  . Mit steigendem Konsum hingegen nehmen die Schäden drastisch zu. Als Kurve dargestellt sieht dieser Effekt wie ein J aus, deshalb trägt die entsprechende Statistik auch den Titel «J-Kurve».

Untermauert werden diese Fakten von einer anderen Meta-Analyse, die etwa zur selben Zeit wie jene Stockwells vom taiwanesischen Wissenschaftler Min-Kuang Tsai publiziert wurde. Sie untersuchte anhand der Daten von 918.529 Menschen zwischen 1997 bis 2014 die Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Gesundheit: «Diese Studie ergab, dass, im Vergleich zu Abstinenzlern, aktuelle Gelegenheits-, leichte und moderate Trinker ein geringeres Risiko für die Gesamtmortalität besassen. Das bestätigte im Grossen und Ganzen die J-Kurve.» 

Der Analyse war keine grosse Öffentlichkeit beschieden.

Einen anderen Aspekt rückte das kanadische Digitalmagazin The Hub unter dem Titel «Unmasking the Fun Police» – «Die Spasspolizei entlarven» – in den Vordergrund. Es machte darauf aufmerksam, dass gleich mehrere Autoren der neuen Leitlinien, unter ihnen Dr. Tim Stockwell selbst, direkt mit Movendi International verbunden sind. Die Kollegen von The Hub sprachen mir aus der Seele, als sie diese Verbindung so kommentierten: «Es ist nichts falsch daran, auf Alkohol und andere Rauschmittel zu verzichten. Aber seine persönliche Meinung als wissenschaftlich auszugeben, auf Kosten der Steuerzahler, und sich dann bei der Regierung für eine Änderung der Politik einzusetzen, ist etwas anderes. Haben die Steuerzahler darum gebeten, dass ihr Geld für die Finanzierung von Anti-Alkohol-Lobbyarbeit verwendet wird? Sicherlich nicht.»


Die Klarheit der Botschaft


Der wesentliche Grund für den Erfolg von Tim Stockwells Meta-Analyse ist die Eindeutigkeit ihrer Botschaft. Diese erlaubt eigentlich nur eine einzige, sinnvolle Schlussfolgerung: ganz auf den Konsum von Alkohol zu verzichten. 

Der deutsche Bestsellerautor Bas Kast stieg prompt darauf ein und verbreitet die Botschaft der WHO in Podcasts, YouTube-Videos oder im gerade erschienenen Buch «Warum ich keinen Alkohol mehr trinke». In den USA sind inzwischen laut einer Gallup-Umfrage 39 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner davon überzeugt, dass selbst «moderates Trinken» schlecht für ihre Gesundheit sei, und es steht zu erwarten, dass die Offensive der Abstinenzler weiter Fahrt aufnimmt.

Mich erinnert die Eindimensionalität und Schlagkraft der Kampagne gegen das Trinken an die Mechanismen der internationalen Politik, die gerade an vergleichbarer Unterkomplexität laboriert: Je einfacher die Botschaft, desto grösser ihre Wirkung. Umso dankbarer bin ich, wenn ich auf Stimmen stosse wie jene von Kenneth Mukamal und Eric B. Rimm, zwei Harvard-Wissenschaftler in den Disziplinen Medizin und Ernährungswissenschaften. Sie veröffentlichten 2024 im Magazin «Harvard Public Health» einen Artikel mit dem vexierspielmässigen Titel «Is Alcohol good or bad for you? Yes.» – «Ist Alkohol gut oder schlecht für Sie? Ja». 

Antwort: «Es ist alles nuancierter, als Schlagzeilen vermuten lassen (einschliesslich dieser).»

Mukamal und Rimm, die miteinander sechzig Jahre Forschungstätigkeit auf die Waage bringen, weisen in ihrem Text darauf hin, dass es durchaus Zusammenhänge zwischen selbst geringem Alkoholkonsum und bestimmten Krebsarten, vor allem Brust- und Speiseröhrenkrebs, gibt. Starker Alkoholkonsum sei «eindeutig gesundheitsschädlich. Doch nach unzähligen Studien rechtfertigen die Daten keine pauschalen Aussagen über die Auswirkungen eines moderaten Alkoholkonsums auf die menschliche Gesundheit.»

Damit stellen sich die beiden gegen die «reduktionistische Darstellungen in den Medien und sogar in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, dass Alkohol in jeder Menge gefährlich ist.» Sie thematisieren auch die Rezeption ihrer eigenen Arbeit, die von Abstinenzlergruppen (ausgerechnet!), dafür kritisiert wurde, dass sie Finanzierungshilfe von der Alkoholindustrie bekommen hatte: «Diejenigen, die versuchen, diese vereinfachte Sichtweise zu korrigieren, werden als Handlanger der Industrie verunglimpft, selbst wenn keine finanziellen Interessenkonflikte bestehen. In der Zwischenzeit haben einige Autoren von Studien, die darauf hinweisen, dass Alkohol ungesund ist, Geld von Anti-Alkohol-Organisationen erhalten.»

Ein besonders interessanter Aspekt bezieht sich auf den Kontext vielzitierter Studien: «Ein Grossteil der Alkoholforschung [ist] beobachtend, d. h. sie verfolgt grosse Gruppen von Trinkern und Abstinenzlern über einen längeren Zeitraum. Beobachtungsstudien können jedoch keine Ursache-Wirkungs-Beziehung nachweisen, da sich gemässigte Trinker in vielerlei Hinsicht von Nichttrinkern und starken Trinkern unterscheiden – beispielsweise in Bezug auf Ernährung, Bewegung und Rauchgewohnheiten.»

Bei genauerer Untersuchung ergab sich etwa das Bild, dass Menschen, die bei besonderen Gelegenheiten besonders viel trinken, ein grösseres Risiko eingehen als andere, die zwar die identische Gesamtmenge an Alkohol konsumieren, diese aber zu den Mahlzeiten und über die ganze Woche verteilt zu sich nehmen. Bei ihnen, so Mukamal/Rimm, scheint die Sterblichkeit sogar zu sinken. Nun werden solche Nuancen in der Forschung nur selten erfasst, weil Forscher nicht immer nach Trinkmustern fragen, sondern sich vor allem auf den Gesamtkonsum der Probanden konzentrieren. 

Die klare, leicht verständliche Ansage, dass «kein Mass an Alkoholkonsum» gesund sei, stimme also nicht. Die Kommunikation komplexerer Muster stösst allerdings entweder bei den Medien auf wenig Gegenliebe oder wird von Institutionen, die anderer Meinung sind, in ein schlechtes Licht gerückt. 


Warum ich weitertrinke


Ich trinke also weiterhin Alkohol, manchmal mehr, manchmal weniger. Meine Leberwerte sind okay, das habe ich im Blick. Hüter über den massvollen Konsum bin ich selbst, Bevormundung schätze ich nicht. 

Es ist nur ein Aperçu, dass sich historisch etliche Schweizer Persönlichkeiten in der Geschichte des Kampfs gegen den Alkohol hervorgetan haben, die protestantische Ethik und das Abstinenzlertum haben offenbar irgendwas gemeinsam. Der Basler Professor Gustav von Bunge machte Ende des 19. Jahrhunderts darauf aufmerksam, dass Alkohol das menschliche Erbgut schädige und forderte deshalb Alkoholverbot und Abstinenz für die gesamte Bevölkerung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Thema Abstinenz von der Eugenik, der Erbgesundheitslehre, adoptiert. Der Psychiater und Eugeniker Auguste Forel, übrigens Mitbegründer des Schweizer Guttempler-Ordens, war eine europäische Kapazität in der Behandlung von alkoholkranken Menschen – und einer der wichtigsten Proponenten der Abstinenzbewegung. Ich will mir ja keineswegs die Blösse geben und die Abstinenzler pauschal in die Nähe irrer Radikaler rücken, aber auch das NS-Regime, das ebenfalls von einem Abstinenzler regiert wurde, propagierte in seiner Rassenhygiene eine abstinente Lebensweise.

Man kann, wie die bekannte Weinkritikerin Jancis Robinson, die aktuellen Aktivitäten der WHO als «einen Krieg gegen den Alkohol» betrachten, wobei ich das nicht so martialisch formulieren würde. Tatsache ist, dass die Aktivitäten der WHO und ihrer abstinenzverherrlichenden Hintermänner in eine Zeit platzen, in der sowieso zusehends weniger getrunken wird. Seit 2007 wird auf der Welt Jahr für Jahr weniger Wein konsumiert. Der Verbrauch fiel von 250 Millionen auf 221 Millionen Hektoliter, ein Minus von gut 15 Prozent. In der Schweiz reduzierte sich der Weinkonsum in den letzten 20 Jahren sogar um ein Viertel. Und wer einen Eindruck von den gesellschaftlichen Trinkgewohnheiten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren im Vergleich zu heute haben möchte, muss nur einen Roman von Patricia Highsmith oder Ross Thomas lesen: Dort werden die heutigen Wochengrenzwerte schon an jedem beliebigen Montag weggespült, und zwar vor dem Mittagessen.

Auch ich bin am sinkenden Weinkonsum nicht unschuldig. Ich trinke deutlich weniger als noch vor zwanzig Jahren. Ob das an meinem Alter liegt, am Zeitgeist oder an der Tatsache, dass ich ein bisschen snobistisch entweder guten Wein trinke oder gar keinen, kann ich gar nicht sagen. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allem. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, dass der Rauschbruder, den Sie beim Morgenspaziergang schlafend auf der Parkbank antreffen, nicht ich bin.

Ich kenne inzwischen einige Menschen – nicht alle haben Bücher darüber geschrieben –, die weniger oder gar keinen Alkohol trinken. Viele von ihnen tragen Gesundheitsuhren oder -ringe, walken mindestens 10.000 Schritte pro Tag, haben ein sehr genaues Ernährungsprogramm – viel Protein, kein Zucker, sicher kein Alkohol – und holen sich ihre Kicks lieber beim Eisbaden oder bei langen Radtouren durch die Bergwelt. Das Bedürfnis dieser Menschen, ihre Körperfunktionen mit neuer Gesundheitssoftware besser zu verstehen, gesünder und möglicherweise auch länger zu leben, ist ein Megatrend unserer Tage, den man getrost als eine Art von Besessenheit bezeichnen könnte – eine Besessenheit, den Dingen des Lebens, die ich ein Leben lang als schön und bereichernd empfunden habe, etwas angeblich Besseres, Heilsameres, Nützlicheres entgegenzusetzen.

Auch in der Generation unserer Kinder wird deutlich weniger getrunken als in den Zeiten, als die Babyboomer auf die Pauke hauten – die gehen jetzt übrigens schrittweise in Rente, was findige Altenheimbetreiber dazu motiviert, Heimplätze für Menschen anzubieten, die nicht auf Sex & Drugs & Rock’n’Roll verzichten möchten. Stellen Sie sich eine Seniorenresidenz vor, die nicht «Waldruh» heisst, sondern «Margaritaville». Gibt es, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

Alkoholfreies Bier ist ein Trendgetränk. An der Extraktion von Alkohol aus Wein oder sogar Champagner – der Gigant Moët Hennessy präsentierte gerade erst seinen alkoholfreien Sprudel «French Bloom» – wird an vielen Fronten gearbeitet. Geschäfte für Weinalternativen sperren auf. In der Spitzengastronomie boomt die alkoholfreie Getränkebegleitung, weil viele Gäste bestes Essen ohne Ablenkung geniessen wollen. Hie und da lasse ich mich selbst dazu hinreissen, alkoholfreie Getränke zu einem Menü zu bestellen, und manchmal macht das sogar Spass. 

Aber unter dem Strich habe ich keine Lust, auf eine der grossen kulturellen Leistungen der Menschheit, die Verwandlung von Trauben in komplexe, hochinteressante Weine, zu verzichten. Zu meinem Genuss, zur Anregung, zum Spass an der Freude, und ja, selbstverständlich auch zur moderaten Berauschung, etwa beim Abendessen mit Freunden, die einen guten Wein genauso geniessen wie ich, manchmal auch allein, zu guter Musik und wandernden Gedanken.

Ich halte mich für beherrscht genug, die schädlichen Wirkungen von Alkohol zu kennen und ihnen mit angemessen massvollem Konsum zu begegnen. Dafür brauche ich auch keine Kennzeichnung auf den Weinflaschen, die auf Gesundheitsrisiken beim Genuss ihres Inhalts hinweist. Exakt das hat die WHO in diesem Februar empfohlen, was befürchten lässt, dass wir auf Weinetiketten bald Fettlebern sehen werden. 

Ich lerne aus der Lektüre der oben zitierten Studien, egal von wem und mit welcher Ambition sie befördert werden, dass es nicht allein um die Mengen an Alkohol geht, die man konsumiert, sondern auch darum, wie man sie konsumiert und welches Leben man ansonsten führt. Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Genuss von XXL-Flaschen Coca Cola gesünder sein soll als der einer Flasche Bier, und ich bin überzeugt davon, dass gute, selbst gekochte Ernährung, regelmässige Bewegung, ein erfüllendes Sozialleben und die daraus abzuleitende Lebensfreude mindestens so viel auf das Lebenszeit-Konto einzahlt, wie ein paar Gläser Wein kosten.

Das Risiko? Ja, natürlich gibt es dieses Risiko. Es ist benannt und bekannt. Der Philosoph Robert Pfaller ordnet das so ein: «Entscheidend ist, dass wir uns nicht ständig vor dem Tod fürchten, sondern vor schlechtem Leben.» Und er gibt uns, Epikur paraphrasierend, den Rat, «mit der Mässigung» massvoll umzugehen, «weil sie selbst sonst zum Exzess wird» Ich bin ihm sehr dankbar für diese Handreichung.

Ich trinke. Ich geniesse das Trinken. Ich geniesse das Leben. In einem Glas Wein, in dem sich das späte Sonnenlicht bricht und das auf einzigartige Weise die Geschichte seiner Herkunft erzählt, wohnen Kunst, Handwerk und Poesie, Selbsterkenntnis und Vitalität. Darauf will ich nicht verzichten, jedenfalls nicht, solange ich am Leben bin.






















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