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Gesellschaft

Gebrauchsanweisung fürs Dankbarksein

Der Jesuitenpater Georg Sporschill, 77, agierte Zeit seines Lebens als Sozialarbeiter. Er stammt aus dem vorarlbergischen Feldkirch nahe der Grenze zu Liechtenstein, kümmerte sich zuerst um Obdachlose und straffällig gewordene Jugendliche in Wien, bevor er 1990 nach Bukarest versetzt wurde und dort mit Unterstützung seiner langjährigen Projektpartnerin Ruth Zenkert ein vielbeachtetes Projekt für Straßenkinder aufbaute, Kinder, die nach dem Zusammenbruch des Ceaușescu-Regimes völlig unbetreut in der Kanalisation und der Bahnhofsperipherie der Millionenstadt lebten. Nach zehn Jahren in Rumänien zog Sporschill weiter nach Moldawien, das ärmste Land auf europäischem Boden, und entwickelte dort – unter Mitwirkung zahlreicher ehemaliger Straßenkinder – ein Hilfsprojekt für tausende Menschen. 2012 verließ er Moldawien und wandte sich der Unterstützung rumänischer Roma zu, die in Siebenbürgen in unbeschreiblicher Verwahrlosung leben. In der Nähe der transsylvanischen Stadt Sibiu, dem ehemaligen Hermannstadt, gründeten Zenkert und Sporschill das Projekt „Elijah“, das mit Sozialzentren, Musikschulen, Werkstätten und Unterbringungsmöglichkeiten Maßstäbe setzt.

Ich besuchte die Dörfer, in denen Sporschill und sein Team tätig sind, im März und sah unglaubliche Kontraste. Elend und Verwahrlosung der Roma sind für einen Mitteleuropäer buchstäblich unvorstellbar. Die Sozialarbeit des Elijah-Teams setzt an der Wurzel an und kümmert sich vorrangig um die Bildung und Versorgung der Roma-Kinder – Analphabetismus ist unter den Roma nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Elijah hat in die Roma-Slums, die sich an der Peripherie der Dörfer befinden, zahlreiche Fertigteilhäuser gebaut und sie an Familien übergeben, deren Kinder die Schule besuchen – eine zwingende Bedingung für Unterstützung.

Finanziert wird das ständig wachsende Projekt ausschließlich durch private Spenden. Der charismatische Sporschill ist das Aushängeschild des Projekts, seine Kontakte zu potenten Spendern sind die Grundlage für ein regelmäßiges Spendenaufkommen. Ich sprach mit ihm in seiner Wohnung in Marpod unter einem Poster von Clint Eastwood über die Sisyphus-Arbeit, der er sein Leben gewidmet hat, über Erfolge und Rückschläge der Sozialarbeit, über die Methoden, wie er Spenden generiert und gleich zu Beginn über das Motiv, das er in seiner Arbeit für zentral hält: Dankbarkeit.

Das Magazin: Sie sind als Sozialarbeiter Spezialist für elementare Dinge der menschlichen Gemeinschaft. Welche Rolle spielt Dankbarkeit in Ihrer Arbeit?

Georg Sporschill: Dankbarkeit ist die Überschrift über das Ganze. Ein evangelischer Nachbarpfarrer hier in Siebenbürgen sagt immer: „Wer dankt, sieht, was er hat! Wer bittet, sieht, was er nicht hat!“ Was ermutigt dich mehr?

Eine Erkenntnis aus Jahrzehnten in der Sozialarbeit?

Keine Erkenntnis, sondern eine permanente Übung. Man vergisst. Wenn du einmal krank warst, sehnst du dich nach Gesundheit. Bist du gesund, hast du die Krankheit schon wieder vergessen. Jede Minute gibt dir die Gelegenheit, dankbar oder unzufrieden zu sein. Du kannst dich für das eine oder das andere entscheiden. Entscheidest du dich für die Dankbarkeit, dann empfängst du Kraft und Lust. Im anderen Fall drückst du dich selbst noch tiefer ins Negative hinein.

Wie lernt man Dankbarkeit, wenn man wie Sie immer dort hin geht, wo es den Menschen besonders schlecht geht?

Gerade in Extremsituationen ist Dankbarkeit der einzige Ausweg. Wenn ein Mensch drogensüchtig ist, ein kaputter Alkoholiker oder im Gefängnis, dann verlangt dir seine Biografie unheimlich viel Fantasie, Sensibilität oder einen sehr genauen Blick ab, um etwas zu finden, wofür die Person dankbar sein kann. Aber genau das muss ich suchen. Sonst hat der nicht die geringste Chance, aus seinem Elend raus zu kommen. Niemand braucht den Blick der Dankbarkeit mehr als der, der eh schon ein ganz ein armer Hund ist.

Das verstehe ich nicht ganz.

Dinge zu entdecken, für die man dankbar sein kann, ist eine Kunst. Man muss sie lernen und entwickeln. Ich kann einem Menschen sagen, dass er ein armer Hund ist und mir leid tut. Damit setze ich sozusagen einen Deckel auf sein Unglück. Oder ich sage: „Du bist zwar ein Dieb, ein Gauner und drogensüchtig, aber irgendwie bist du doch sehr charmant!“ Oder: „Jetzt habe ich etwas von dir gelernt!“ – und wenn ich nur gelernt habe, wie dankbar ich sein muss, dass ich nicht selbst drogensüchtig bin. Über das denkt man ja normalerweise nicht nach. Sozialarbeit ist die Suche nach der Frage, wie ein Mensch in seinem Elend einen noch so winzigen, positiven Ansatz finden kann, so dass er einen Fuß darauf setzen kann, um sich ein bisschen zu erheben.

Eigentlich ein Ansatz, der nicht nur in der Sozialarbeit, sondern auch im Alltag praxistauglich ist.

Natürlich. Dankbarkeit ist eine Frage des Blicks, des Zugangs. Dem Franz von Assisi ist es gelungen zu sagen: „Bruder Tod, komm!“

Er war sogar noch dem Tod dankbar.

Das ist schon eine Steigerung ins Extrem, würde ich sagen. Aber in Wahrheit geht es doch darum, auch diesem Augenblick noch was abzugewinnen, um ihn zu bestehen. Wenn ich jetzt als Christ oder Katholik rede: Wenn du alles in einen Ritus zusammenfassen würdest, wäre es die Eucharistie. Das ist das griechische Wort für Dankbarkeit.

Sie sind 1990 als Sozialarbeiter nach Rumänien gekommen, als es dort Elend gab, das man sich in der Schweiz und in Mitteleuropa überhaupt nicht vorstellen konnte.

Ich bin mit drei Studenten nach Bukarest gekommen, mit dem VW Bus. Wir hatten nur Schlafsäcke mit. Uns wurde dann eine kleine Hausruine angeboten, wo wir wohnen konnten. Wir haben uns schnell bemüht, Fenster reinzumachen und das Gebäude bewohnbar zu machen. Es war extrem wichtig, dass wir nicht vornehm gewohnt haben, sondern in einer Ruine. Denn da entwickelst du höchstes Interesse, dass du deine Umstände verbesserst. Sitzt du eh im warmen Zimmer, ist das nicht so drängend.

Wo haben Sie mit Ihrer Arbeit angefangen?

Wir sind zum Bahnhof gegangen. Am Bahnhof waren wir sofort umringt von hundert Straßenkindern. Lauter zerlumpte Figuren. Damals hat es weder Touristen oder Fremde in Bukarest gegeben, auch keine Straßenbeleuchtung. Bukarest war eine dunkle Stadt.

Die Kinder haben Ausländer gesehen und haben sich davon instinktiv etwas versprochen.

Es war klar für sie, dass wir der Christbaum sind, den sie abräumen müssen. Sie haben uns angestoßen und probiert, wie wir reagieren. Natürlich haben wir einerseits Angst gehabt. Wäre ich vorher nicht geschult worden durch die Obdachlosenszene in Wien, in der ich schon fast zehn Jahre gelebt hatte, wäre ich sofort davongerannt. Aber dann hat der Mut die Angst überwältigt.

So haben Sie Verbündete gewonnen.

Einer hat sich auf meine Seite gestellt und gesagt: „Du, ich helfe dir!“ Sofort ist die Stimmung gekippt. Die Kinder wollten Brot. Sie haben uns gezeigt, wo es Brot gab, haben alles genommen, was sie packen konnten und sind davongerast. Zu mir haben sie gesagt: „Komm mit!“ Sie haben ja ihr Brot gehabt. Ans Bezahlen haben sie nicht gedacht.

Sie haben bezahlt.

Natürlich. Ich habe von ihnen gelernt, wo es Brot gibt, und habe dann begonnen, ihnen beizubringen, dass man für das Brot bezahlen muss. So begann ein gegenseitiger Lernprozess.

Wie haben Sie sich unterhalten?

Ich konnte ja nicht Rumänisch, also mussten wir uns mit dem Lexikon und einzelnen Worten durchkämpfen. Aber da war dieser eine, der sich auf meine Seite gestellt hat. Den habe ich übrigens zehn Jahre später wieder getroffen, da war er schon ein junger Mann. Er sagte zu mir: „Vergiss nicht, ich war dein Professor!“ Das hat für mich eine ganz zentrale Bedeutung.

Inwiefern?

G: Er hat sich nicht erinnert, dass ich ihm sein Brot bezahlt habe. Er hat sich daran erinnert, was er mir geben konnte. Wo ich der Empfänger war – und er der, der gegeben hat. Nicht umgekehrt. Das ist das einfache Wort von Jesus: „Geben ist seliger als Nehmen!“

Was bedeutet das für die Psyche der Menschen?

Dass es großartig ist, wenn du in der Lage bist, etwas geben zu können – und nicht der arme Kerl bist, der nehmen muss. Das war für mich ein Urerlebnis. Bis heute frage ich mich immer, wie es mir gelingen kann, mein Gegenüber, auch wenn es ein Kind ist, zum Geber zu machen. Etwas von ihm zu nehmen.

Sie haben es zu ihrem Instrument gemacht.

G: Ich habe begriffen, dass man die Verhältnisse umkehren muss, um die Bedürftigen ihre Bedürftigkeit nicht spüren zu lassen. Wenn dir dieses Umschalten nicht gelingt, dann gelingt auch Sozialarbeit nicht.

Was passiert dann?

Du machst die Leute klein und abhängig und befriedigst maximal ein momentanes Bedürfnis. Hunger, Durst. Nicht missverstehen, das muss man auch machen. Aber wir Sozialarbeiter müssen uns fragen, wie es uns gelingt, die Menschen, die wir betreuen, in eine gebende, selbstbewusste Rolle zu bringen.

Gelingt es oft?

Nicht oft. Aber es passiert.

Wie lange sind Sie in Bukarest geblieben?

Ich war zehn Jahre ausschließlich in Bukarest und dann bin ich nach Moldawien weitergezogen.

Warum? Sie konnten mit Ihrer damaligen Organisation „Concordia“ in Bukarest unzähligen Straßenkindern ein Dach über dem Kopf geben. Tausende Kinder, die aus den aufgelösten Heimen der Ceaucescu-Diktatur geströmt waren, lebten damals im Kanalnetz von Bukarest und in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs. Sie haben das Problem bekannt gemacht und eine funktionierende Infrastruktur aufgebaut.

Stimmt alles. Aber ein Bekannter aus Moldawien hat damals zu mir gesagt: „Du machst es dir in Bukarest gemütlich. Wenn du wissen willst, wo wirkliche Probleme sind, dann komm nach Moldawien!“ Das habe ich dann ein Jahr aufgeschoben, weil ich mich kenne: Wenn ich einmal dort hinfahre, bin ich verloren.

Und war es so?

Ja, so war es dann auch. Ich bin nach Moldawien gereist und nicht mehr zurückgekommen. Das Tolle daran war, dass die Straßenkinder aus Bukarest, die in den Jahren zum Teil meine Mitkämpfer geworden sind, nicht gesagt haben: „Warum gehst du weg, Parentele?“. Viele haben gesagt: „Wir gehen mit!“

Warum?

Da sind wir wieder beim Thema: Weil sie natürlich Lust hatten, auch etwas zu geben und in Moldawien zu helfen.

Sie erzählen Sozialarbeit als logische Folge von positiven Momenten. Aber die monumentalen Frustrationen lassen Sie aus. Sind Sie ein Romantiker oder ein Realist?

In frommen Worten könnte ich sagen: Das Normale kenne ich nicht, Wunder schon.

Was bedeutet das für den täglichen Betrieb in Ihren Häusern?

In den Häusern und Sozialzentren, wo ich etwas zu reden habe, gibt es immer strenge Regeln. Aber noch wichtiger sind die Ausnahmen. Ich glaube an den einen Gott, aber nicht an die vielen Regeln, die wir Menschen gemacht haben. Ganz strenge Regeln und die frechsten Ausnahmen – das gehört für mich zusammen.

Wofür brauchen Sie dann überhaupt Regeln?

Es wäre faschistisch oder reaktionär, Regeln zu haben und krampfhaft an sie zu glauben statt an die Fantasie des lieben Gotts, die jederzeit alles sprengen kann. Regeln sind nicht heilig, aber ganz wichtig. Das vertrete ich fast tyrannisch – und dann wieder ganz anarchistisch. Für mich gehört das zusammen.

Wenn man die Geschichte in Moldawien von hinten erzählt, sieht man, dass binnen weniger Jahre ein sehr großer Hilfsbetrieb entstanden ist, mit hunderten Angestellten, die sich um Bedürftige kümmern. Aber wie sieht der Tag eins aus? Wie fangen Sie an?

Du musst deine Aufgabe spüren. In der Regel gehe ich zum Bahnhof, dort siehst du sofort, was zu tun ist. Heute stehen dort zum Beispiel tausende Flüchtlinge herum. Wenn du dich ihnen näherst, beginnst du ihr Problem selbst zu spüren. Bei mir ist es jedenfalls so. Dann wird deren Problem dein Problem, und dann brennst du. So beginnt das.

So war es auch in Moldawien?

In Moldawien war es anders. Moldawien war kommunistisch regiert. Du hast auf der Straße keine Obdachlosen gesehen. Aber über einen zufälligen Kontakt habe ich einen Geheimdienstmann kennengelernt – den Herrn Franz. Der konnte mir zeigen, wo die Not ist. Und er hat mich dann mitgenommen an die verborgenen Orte, wo Menschen im Elend gelebt haben. So hat es begonnen.

Was waren das für Orte?

Hinterhöfe, wo sich Leute versteckt haben.

Die hatten also nicht nur nichts zum Schlafen und nichts zum Fressen, sondern mussten sich auch noch vor der Polizei verstecken?

Ja, so war das. Da hat die Polizei noch die Öffentlichkeit sauber gehalten. In Moldawien hinken sie der sogenannten westlichen Freiheit schwer nach – bis heute. Wir sind dann auf Heime gestoßen. Die gab es dort noch, in Rumänien waren sie aufgelöst worden. Dort lebten Heimkinder, die nicht genug zu essen hatten, die missbraucht und geprügelt wurden.

Auf die hat sich Ihre Hilfe konzentriert?

Auch. Denn bald haben wir festgestellt, dass vor allem die alten Leute in Not sind. Die tragende Generation, die mittlere, ist fast vollständig im Ausland gewesen – illegal. Legal konnten die damals noch nicht ohne weiters in den Westen. Als Taglöhner, als Prostituierte, alles Mögliche. Das Ziel war: nur weg. Geblieben sind die Alten und die Kinder. Eine dysfunktionale Gesellschaft.

Warum zieht Sie das Elend so an?

Weil ich einen Blick dafür habe. Weil ich dafür geschult wurde wie ein Trüffelschwein. Weil das Helfen Teil meines Lebens ist. Auf die Dauer – ich bin jetzt 76 – ist mein Blick einfach auf bestimmte Dinge gerichtet. Es ist so.

Wie haben Sie es geschafft, eine strukturierte Unterstützung für hunderte, wenn nicht tausende Bedürftige aufzubauen? Von der Kirche bekommen Sie ja nicht unbeschränkt Mittel dafür.

Gar keine. Wir finanzieren uns ausschließlich durch private Spenden.

Ihre Arbeit ist also zweigeteilt. Sie müssen neben der Sozialarbeit auch die Kunst des Fundraising beherrschen. Ziemlich unterschiedliche Aufgaben.

Gar nicht so unterschiedlich. Ich komme auf den Begriff der Dankbarkeit zurück. Klar könnte ich den Spender als Geldsack sehen, den ich ausräumen muss. Aber es ist komplizierter. Natürlich ermöglicht mir der Spender alles. Wenn es ihn nicht gäbe, könnte ich niemandem helfen. Dafür muss ich aber den Straßenkindern dankbar sein.

Inwiefern?

Wenn ich keine Straßenkinder zu betreuen hätte, würde ich nie so vielen großzügigen Menschen begegnen. Die Kindern öffnen mir einen Zugang zu den besten Seiten der Menschen. Sie schenken mir, wenn du willst, zum Blick auf das Elend auch den Blick auf die Großzügigkeit der Menschen. So bekomme ich plötzlich Freunde, die ich sonst nicht bekommen hätte.

Die Spender bekommen für ihr Geld Ihre Freundschaft?

In erster Linie bekommen Sie für Ihr Geld Lebensqualität.

In welcher Form?

Jede Gemeinschaft, die für andere etwas tut, fühlt sich in ihrer Haut hundertmal wohler als eine Gemeinschaft, die aggressiv ist, andere abwertet, sich verteidigt, gierig und geizig ist. Das ließe sich soziologisch sofort nachweisen.

So wie es Rutger Bregmann in seiner Menschheitsgeschichte „Im Grunde gut“ schreibt.

Ja, da bin ich zu hundert Prozent überzeugt davon. Reichtum allein ist öd, auch das habe ich gelernt. Umso spannender ist es, wenn sich die Lebenswelten von Spendern und Empfängern treffen.

Dafür sorgen Sie?

Ja. Wenn ich mit Spendern auf Reisen gehe, nehme ich oft Jugendliche aus unseren Häusern mit. Das ist immer interessant, weil die keine Hemmung haben, die Wahrheit zu sagen. Man redet dann nicht einfach in den gebräuchlichen Floskeln, sondern kommt schnell auf den Punkt.

Zum Beispiel?

Letzte Woche war ich bei meinen Mitbrüdern, den Jesuiten in Bukarest, auf Besuch. Es gab eine Heilige Messe und nachher ein Abendessen, bei dem man halt würdig und fromm miteinander redet. Aber ich hatte einen alten Freund vom Bahnhof mitgebracht, der seit Jahrzehnten dort lebt. Und der hat dann beim Essen als erstes einen großen Vortrag gehalten, wie toll das Klo ist und dass er so toll geschissen hat wie seit langem nicht mehr. Am Anfang sind alle fast unter den Tisch gekrochen vor Peinlichkeit, aber dann sind sie aufgetaut und haben gelacht wie noch nie. Mein Freund hat uns dann Geschichten vom Bahnhof zum Besten gegeben, und es wurde der menschlichste, ehrlichste Abend, den die seit langem erlebt haben.

Wofür Sie ihm natürlich dankbar sind.

Genau. Ich will damit sagen, dass das keine fromme Theorie ist, sondern dass diese Menschen unser Leben wirklich reicher machen.

Von Moldawien sind Sie nach Siebenbürgen weitergezogen, wo Sie unter dem Namen „Elijah“ ein neues Projekt begonnen haben, das sich vor allem um die hier in völliger Verwahrlosung lebenden Roma kümmert. Wieso der nächste Neuanfang?

Ich plane das nicht. Die Aufgaben kommen auf mich zu. Als ich in Bukarest war, rief mich Moldawien. Als ich in Moldawien war, riefen mich die Roma-Kinder in Siebenbürgen. Ich such mir das nicht auf wie einen Stoff für eine Hose, es bricht über mich herein. Aber natürlich muss ich, bevor ich etwas Neues mache, eine entscheidende Frage beantworten: Ist mein Werk so weit, dass ich einer neuen Aufgabe nachgehen kann?

Jetzt haben Sie zum Beispiel begonnen, sich um Flüchtlinge aus der nahen Ukraine zu kümmern.

Als ich unseren Kindern hier erzählt habe, dass wir jetzt Flüchtlinge aufnehmen, haben die gejubelt. Die hätten auch sagen können: „Und was ist mit uns? Bekommen wir auch noch genug?“ Aber sie haben gejubelt. Die Menschen wollen helfen. Sie wollen, dass es auch anderen gut geht. Menschen wollen für andere Menschen da sein. Und so kann ein neues Werk entstehen.

Sind neue Werke vielleicht auch neue Reize oder Abenteuer für Sie?

Nein, Lustfrage ist es keine. Sondern eine Frage des Gerufen-Werdens. Wenn du auf deine Lust hörst, dann wird alles unernst. Es braucht Berufung, überall. Wenn du nicht die Berufung hast, hier bei den Roma etwas zu machen, dann stehst du die Arbeit nicht durch.

Ich habe an den Orten, wo Sie hier tätig sind, eine Verwahrlosung gesehen, die ich mir in Europa, auf dem Territorium der EU, nicht vorstellen konnte. Ihre Arbeit lindert das Elend, kann es aber nicht strukturell beseitigen. Was macht das mit Ihnen?

Sobald mich die Not oder das Chaos zu überwältigen drohen, sage ich mir: Du sollst den Wahnsinn nicht beurteilen, sondern etwas tun. Es ist fast ein rationaler Akt, in den Augenblicken der Überforderung und des Nichtverstehens zu sagen: Da musst du jetzt Hand anlegen.

Das bedeutet, Sie gehen pragmatisch und nicht moralisch an die Aufgaben heran. Sonst müssten Sie sich Ihr Scheitern eingestehen.

In den Momenten größten Zweifels versuche ich immer, mich in den Angriffsmodus zu versetzen. Natürlich geht es dabei nicht um die sofortige Lösung des Gesamtproblems, sondern ich versuche, einzelne positive Punkte zu suchen, sozusagen Steine in diesem Sumpf, auf die ich treten kann, um nicht auch unterzugehen. Dabei entdecke ich neue Perspektivien.

Um – wie Sie es formuliert haben – fromm zu sprechen: Was macht das mit Ihrer Seele?

Ich glaube, dieses Vorgehen hat meine Seele bis heute gesund gehalten. Jedenfalls bin ich bis heute nicht im Sumpf ersoffen.

Sie haben einmal gesagt, gute Sozialarbeit findet immer im Graubereich statt.

Gute Sozialarbeit braucht Regeln und braucht Ausnahmen. Das heisst automatisch Graubereich. Und dort ist es gefährlich. Auch für dich selbst. Es kann durchaus passieren, dass du dich verlierst. Sozialarbeit bedeutet volles Risiko. Aber wenn es nicht riskant ist, ist es nichts.


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